»Ja, ich werde mich heute Nacht wieder hinüberschleichen«, sagte Staubfinger, »lange wird er nicht mehr fort sein und Basta ist bestimmt auch bald zurück.« Bastas Wagen hatte schon bei ihrer Ankunft nicht auf dem Parkplatz gestanden. Ob er und Flachnase etwa immer noch gefesselt in der Ruine lagen?
»Gut! Wann brechen wir auf?« Farids Stimme klang, als wäre er am liebsten sofort losgelaufen. »Sobald die Sonne untergegangen ist? Dann sind sie alle in der Kirche zum Essen.«
Staubfinger scheuchte eine Fliege von seinem Fernglas. »Ich geh allein. Du bleibst hier und passt auf unsere Sachen auf.«
»Nein!«
»Doch. Weil es gefährlich wird. Ich will jemanden besuchen und dafür muss ich mich in den Hof hinter Capricorns Haus schleichen.«
Der Junge musterte ihn mit erstaunten Augen. Schwarz waren sie und blickten manchmal drein, als hätten sie schon zu viel gesehen. »Ja, da staunst du, was?« Staubfinger verkniff sich ein Lächeln. »Hättest nicht gedacht, dass ich Freunde in Capricorns Haus habe.«
Der Junge zuckte die Achseln und blickte hinüber zum Dorf. Ein Wagen fuhr auf den Parkplatz, ein staubiger Laster. Auf der offenen Ladefläche standen zwei Ziegen.
»Da ist wieder irgendein Bauer seine Ziegen losgeworden!«, murmelte Staubfinger. »Klug von ihm, sie abzugeben, sonst hätte spätestens heute Abend ein Zettel an seiner Stalltür geklebt.«
Farid sah ihn fragend an.
»Morgen kräht der rote Hahn hätte auf dem Zettel gestanden. Das ist der einzige Satz, den Capricorns Männer schreiben können. Manchmal hängen sie auch einfach einen toten Hahn über die Tür. Das versteht jeder.«
»Der rote Hahn?« Der Junge schüttelte den Kopf. »Ist das ein Fluch oder so was?«
»Nein! Teufel, du hörst dich schon wieder wie Basta an.« Staubfinger lachte leise.
Capricorns Männer stiegen aus dem Wagen. Der kleinere von ihnen hatte zwei prall gefüllte Plastiktüten dabei, der andere zerrte die Ziegen von der Ladefläche. »Der rote Hahn ist das Feuer, das Feuer, das sie ihnen in die Ställe legen oder an ihre Olivenbäume. Manchmal kräht der Hahn auch unterm Dach oder, wenn jemand besonders verstockt war, im Kinderzimmer. Fast jeder Mensch besitzt etwas, an dem sein Herz hängt.«
Die Männer zerrten die Ziegen ins Dorf. Einer von ihnen war Cockerell, Staubfinger erkannte ihn an seinem Hinken. Er hatte sich schon oft gefragt, ob Capricorn von all diesen kleinen Geschäften wusste oder ob seine Männer ab und zu auch für die eigene Tasche arbeiteten.
Farid fing eine Heuschrecke in der hohlen Hand und beobachtete sie durch seine Finger. »Ich komme trotzdem mit«, sagte er.
»Nein.«
»Ich hab keine Angst!«
»Umso schlimmer.«
Capricorn hatte Scheinwerfer anbringen lassen, nachdem ihm seine Gefangenen davongelaufen waren - vor der Kirche, auf dem Dach seines Hauses und am Parkplatz. Das machte es nicht gerade leichter, unentdeckt zu bleiben. Staubfinger hatte sich gleich in der ersten Nacht ins Dorf geschlichen, das narbige Gesicht mit Ruß geschwärzt, weil man es allzu leicht erkannte.
Auch die Wachtposten hatte Capricorn verstärkt, wahrscheinlich all der Schätze wegen, die Zauberzunge ihm verschafft hatte. Natürlich waren sie längst in den Kellern seines Hauses verschwunden, sorgsam verschlossen in den schweren Geldschränken, die Capricorn dort unten hatte aufstellen lassen. Er gab sein Gold nicht gern aus. Er hortete es, wie die Drachen im Märchen. Manchmal schmückte er seine Finger mit einem Ring oder den Hals einer Magd, die ihm gerade gefiel, mit einer Kette. Oder er schickte Basta los, ihm ein neues Jagdgewehr zu kaufen.
»Mit wem willst du dich treffen?«
»Das geht dich nichts an.«
Der Junge ließ das Heupferd wieder laufen. Hektisch sprang es davon auf seinen staksigen olivgrünen Beinen.
»Es ist eine Frau«, sagte Staubfinger. »Eine von Capricorns Mägden. Sie hat mir schon ein paar Mal geholfen.«
»Ist es die, von der du ein Foto im Rucksack hast?«
Staubfinger ließ das Fernglas sinken. »Woher weißt du, was in meinem Rucksack steckt?«
Der Junge zog den Kopf zwischen die Schultern wie jemand, der es gewohnt ist, für jedes unbedachte Wort Prügel zu beziehen. »Ich hab nach Streichhölzern gesucht.«
»Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, dass du die Finger in meinem Rucksack hast, sag ich Gwin, er soll sie dir abbeißen.«
Der Junge grinste. »Gwin beißt mich nie.«
Da hatte er Recht. Der Marder hatte einen Narren an dem Jungen gefressen.
»Wo steckt das treulose Biest eigentlich?« Staubfinger lugte durch die Zweige. »Ich hab ihn seit gestern nicht gesehen.«
»Ich glaub, er hat ein Weibchen entdeckt.« Farid stocherte mit einem Ast in dem trocknen Laub. Überall unter den Bäumen lag es. Nachts würde es jeden verraten, der versuchte, sich an ihr Lager heranzupirschen. »Wenn du mich heute Nacht nicht mitnimmst«, sagte der Junge, ohne Staubfinger anzusehen, »dann schleich ich dir einfach hinterher.«
»Wenn du mir nachschleichst, schlag ich dich grün und blau.«
Farid senkte den Kopf und musterte mit ausdruckslosem Gesicht seine nackten Zehen. Dann blickte er zu den Mauerresten hinüber, hinter denen sie ihr Lager aufgeschlagen hatten.
»Komm mir jetzt nicht wieder mit dem Geist der alten Frau!«, sagte Staubfinger ärgerlich. »Wie oft soll ich es dir noch sagen? Alles, was gefährlich ist, ist dort drüben in den Häusern. Mach dir Feuer in der Senke, wenn du Angst vor der Dunkelheit hast.«
»Die Geister haben keine Angst vor Feuer.« Die Stimme des Jungen war kaum mehr als ein Flüstern.
Staubfinger stieg mit einem Seufzer von seinem Aussichtsplatz herunter. Der Junge war wirklich fast so schlimm wie Basta. Er fürchtete sich nicht vor Flüchen, Leitern und schwarzen Katzen, aber Geister sah er überall, und nicht etwa nur den der alten Frau, die irgendwo verscharrt in der harten Erde schlief. Nein, Farid sah noch andere Geister, ganze Scharen von ihnen: bösartige, fast allmächtige Geschöpfe, die armen sterblichen Jungen das Herz aus dem Leib rissen und es verspeisten. Er wollte Staubfinger einfach nicht glauben, dass sie nicht mit ihm gekommen waren, dass er sie zurückgelassen hatte in einem Buch, zusammen mit den Räubern, die ihn geprügelt und getreten hatten. Womöglich würde er vor Angst tot umfallen, wenn er heute Nacht allein blieb.
»Also gut, dann kommst du eben mit«, sagte Staubfinger. »Aber du gibst keinen Laut von dir, verstanden? Das da unten sind nämlich keine Geister, sondern echte Menschen mit Messern und Gewehren.«
Farid schlang dankbar die mageren Arme um ihn.
»Ja, ja, schon gut!«, sagte Staubfinger barsch und schob ihn weg. »Los, zeig mir, ob du inzwischen auf einer Hand stehen kannst.«
Der Junge gehorchte sofort. Mit hochrotem Kopf balancierte er erst auf dem rechten, dann auf dem linken Arm, die nackten Beine in die Luft gestreckt. Nach drei wackeligen Sekunden landete er in den harten Blättern einer Zistrose, aber er rappelte sich sofort wieder auf und versuchte es erneut.
Staubfinger setzte sich unter einen Baum.
Es wurde Zeit, den Jungen wieder loszuwerden. Aber wie? Nach einem Hund konnte man ein paar Steine werfen, aber nach einem Jungen ... Warum war er bloß nicht bei Zauberzunge geblieben? Der verstand sich besser aufs Aufpassen. Und schließlich hatte er ihn hergeholt. Aber nein, der Junge war ihm hinterhergelaufen.