Den stinkenden Marder haben sie mitgenommen!, dachte sie, während sie sich wieder aufraffte. Aber mich nicht. Und jetzt sind sie tot. »Lass uns zur Polizei gehen!« Wie oft hatte sie das gesagt! Aber Mortimers Antwort war immer dieselbe gewesen. »Nein, Elinor, Capricorn würde Meggie verschwinden lassen, sobald der erste Polizist das Dorf betritt. Und Bastas Messer ist schneller als alle Polizei der Welt, glaub mir.« Über seiner Nasenwurzel hatte sich dabei diese steile kleine Falte gezeigt, sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, was sie bedeutete.
Was sollte sie nur tun? So ganz allein.
Stell dich nicht an, Elinor!, fuhr sie sich selber an. Du warst immer allein, hast du das schon vergessen? Streng deinen Kopf an. Du musst dem Mädchen helfen, egal, was mit ihrem Vater passiert ist. Du musst sie herausholen aus diesem dreimal verfluchten Dorf, es ist niemand mehr da, der das erledigen könnte außer dir, oder willst du, dass aus ihr eine von diesen verhuschten Mägden wird, die sich kaum trauen den Kopf zu heben und nur dazu da sind, für den feinen Herrn zu putzen und zu kochen? Vielleicht darf sie Capricorn ab und zu etwas vorlesen, wenn er Lust darauf verspürt, und wenn sie dann älter wird ... sie ist ein hübsches Ding ...
Elinor wurde schlecht. »Ich brauche so eine Flinte«, flüsterte sie, »oder ein Messer, ein großes, scharfes Messer, damit schleich ich mich in Capricorns Haus. Wer soll mich schon erkennen in diesem unsäglichen Kleid?« Mortimer hatte immer geglaubt, dass sie nur mit der Welt zurechtkam, die zwischen zwei Buchdeckeln steckte, aber sie würde es ihm zeigen!
Wie denn?, flüsterte es. Er ist fort, Elinor, fort wie deine Bücher.
Sie schluchzte auf, so laut, dass sie selbst erschrak und sich die Hand auf den Mund presste. Ein Ast zerbrach unter ihrem Fuß, und hinter einem der Fenster in Capricorns Dorf erlosch das Licht. Sie hatte Recht gehabt. Die Welt war furchtbar, grausam, mitleidlos, dunkel wie ein schlimmer Traum. Kein Ort zum Leben. Bücher waren der einzige Ort, an dem es Mitleid, Trost, Glück gab ... und Liebe. Bücher liebten jeden, der sie aufschlug, schenkten Geborgenheit und Freundschaft und verlangten nichts dafür, gingen nie fort, niemals, selbst dann nicht, wenn man sie schlecht behandelte. Liebe, Wahrheit, Schönheit, Weisheit und Trost im Angesicht des Todes. Wer hatte das nur gesagt? Irgendein anderer Büchernarr, sie konnte sich nicht an seinen Namen erinnern, aber an die Worte. Wörter sind unsterblich ... außer es kommt jemand und verbrennt sie. Und selbst dann ...
Sie stolperte weiter. Aus Capricorns Dorf sickerte das Licht bleich wie milchiges Wasser in die Nacht. Auf dem Parkplatz, zwischen den Autos, standen drei von den Mördern und steckten die Köpfe zusammen. »Ja, redet nur!«, wisperte Elinor. »Prahlt mit euren blutigen Fingern und euren verkohlten Herzen, ihr werdet es noch bereuen, sie umgebracht zu haben.« Was war besser? Gleich hinunterschleichen oder erst am Morgen? Es war beides Wahnsinn, sie würde keine zwei Ecken weit kommen. Einer der drei Männer sah sich um und für einen Moment dachte Elinor, er könnte sie sehen. Sie stolperte zurück, rutschte aus und hielt sich gerade noch an einem Zweig fest, bevor ihre Füße wieder den Halt verloren. Da raschelte es hinter ihr, und bevor sie sich umsehen konnte, presste sich eine Hand auf ihren Mund. Sie wollte schreien, aber es kam kein Laut aus ihrem Mund, so fest drückten sich die Finger auf ihre Lippen.
»Hier steckst du also. Weißt du, wie lange ich schon nach dir suche?«
Das konnte nicht sein. Sie war so sicher gewesen, dass sie diese Stimme nie wieder hören würde.
»Entschuldige, aber ich wusste, dass du schreien würdest! Komm!« Mortimer nahm die Hand von ihrem Mund und winkte sie hinter sich her. Sie war nicht sicher, was sie lieber getan hätte: ihm um den Hals zu fallen oder ihn so fest zu schlagen, dass es wehtat.
Erst als die Häuser von Capricorns Dorf hinter den Bäumen kaum noch zu sehen waren, blieb er stehen. »Warum bist du nicht beim Lager geblieben? Stolperst hier in der Dunkelheit herum ... Weißt du, wie gefährlich das ist?«
Das war zu viel. Elinor rang immer noch nach Atem, so schnell war er gegangen. »Gefährlich?« Es war schwer, leise zu sprechen, wenn man so wütend war. »Du redest von gefährlich? Ich habe die Schüsse gehört und das Geschrei! Ich dachte, ihr wärt tot! Ich dachte, sie hätten euch durchlöchert, zerschossen ...«
Er fuhr sich übers Gesicht. »Ach was, die können alle nicht zielen«, sagte er. »Zum Glück.«
Elinor hätte ihn dafür schütteln können, dass er so gelassen tat. »Ach ja? Und was ist mit dem Jungen?«
»Der ist auch in Ordnung, bis auf einen Kratzer an der Stirn. Als die Schüsse fielen, ist ihm der Marder weggelaufen und er ist hinterher. Dabei hat er einen Querschläger abbekommen. Ich habe ihn oben beim Lager gelassen.«
»Der Marder? Ist das eure einzige Sorge, der bissige, stinkende Marder? Diese Nacht hat mich zehn Jahre meines Lebens gekostet!« Elinor wurde schon wieder laut. Schnell senkte sie die Stimme. »Ich hab dieses schreckliche Kleid angezogen!«, zischte sie. »Ich hab euch vor mir gesehen, mit all dem Blut und den Wunden ... Ja, sieh mich ruhig so an!«, fuhr sie ihn an. »Es ist ein Wunder, dass ihr nicht tot seid. Ich hätte nicht auf dich hören dürfen. Wir hätten zur Polizei gehen sollen ... diesmal müssen sie uns glauben, wir ...«
»Es war nur Pech, Elinor!«, unterbrach er sie. »Glaub mir. Ausgerechnet dieser Cockerell hat vor dem Haus Wache gestanden. Die anderen hätten mich gar nicht erkannt.«
»Und was wird morgen sein? Vielleicht ist es dann Basta oder Flachnase! Was hilft es deiner Tochter, wenn du tot bist?«
Mortimer drehte ihr den Rücken zu. »Ich bin aber nicht tot, Elinor!«, sagte er. »Und ich werde Meggie da rausholen, bevor sie die Hauptrolle bei einer Hinrichtung spielt.«
Als sie zu ihrem Lager kamen, schlief Farid schon. Das blutige Tuch, das Mortimer ihm um den Kopf gebunden hatte, sah fast so aus wie der Turban, den er getragen hatte, als er hinter den Säulen von Capricorns Kirche hervorgetreten war.
»Es sieht schlimmer aus, als es ist«, flüsterte Mo. »Aber glaub mir, wenn ich ihn nicht festgehalten hätte, wäre er diesem Marder durch das halbe Dorf nachgelaufen. Und wenn sie uns nicht erwischt hätten, hätte er sich bestimmt auch noch in die Kirche geschlichen, um nach Staubfinger zu sehen.«
Elinor nickte nur und wickelte sich in ihre Decke. Die Nacht war mild, an anderen Orten hätte man sie sicherlich friedlich genannt.
»Wie habt ihr sie abgeschüttelt?«, fragte sie.
Mortimer setzte sich neben den Jungen. Elinor sah erst jetzt, dass er die Flinte dabei hatte, die Farid für ihn gestohlen hatte. Er zog sie von der Schulter und legte sie neben sich ins Gras. »Sie sind uns nicht lange gefolgt«, antwortete er. »Wozu auch? Sie wissen, dass wir wiederkommen. Sie brauchen nur zu warten.«
Und Elinor würde dabei sein, das schwor sie sich. Sie wollte sich nie wieder so fühlen wie in dieser Nacht, so verlassen von allem und jedem. »Was habt ihr als Nächstes vor?«, fragte sie.
»Farid hat vorgeschlagen, dass wir Feuer legen. Bisher habe ich es für zu gefährlich gehalten, aber die Zeit läuft uns davon.«
»Feuer?« Elinor kam es vor, als würde das Wort ihr die Zunge verbrennen. Seit sie die Asche ihrer Bücher gefunden hatte, versetzte schon der Anblick eines Streichholzes sie in Panik.
»Staubfinger hat dem Jungen einiges darüber beigebracht, außerdem kann selbst der größte Dummkopf ein Feuer legen. Wenn wir an Capricorns Haus Feuer legen ...«