Выбрать главу

»Ja, Großmutter?«

Die Stirn des Schlafenden Kindes legte sich vor Anstrengung in tiefe Falten, die Augen blieben geschlossen, die grasigen Wimpern waren nass von Tränen. Doch die Lippen formten die letzten Worte der Großmutter.

»Zünd es an.«

Die Stimme der uralten Dhrakierin war durch den Boden gedrungen, als hätte die Erde selbst der letzte Bote der standhaften Wächter in sein wollen. Sie war durch die Platte aus Lebendigem Gestein und das letzte noch lebende Kind der Erde gereist. Die Ironie trieb Rhapsody die Tränen in die Augen. Nie würde die Großmutter von den Lippen des Erdenkinds die weisen Worte hören, auf die sie ihr Leben lang gewartet hatte. Die einzigen Worte, welche das Schlafende Kind jemals sprechen würde, waren die der Großmutter selbst. Rhapsody blickte zu ihren beiden Kameraden auf. Die Männer sahen, wie ihr trauriges Gesicht einen harten und entschlossenen Ausdruck annahm.

»Nun gut«, sagte sie. »Ich werde es tun. Macht, dass ihr hier wegkommt.«

56

Ohne ein weiteres Wort hob Grunthor das Schlafende Kind vom Altar aus Lebendigem Gestein in die Arme und machte eine Kopfbewegung zu dem Gang, der nach Ylorc führte. Dann rannten er und Achmed auch schon den Korridor hinauf.

Als Grunthor sicher war, dass Rhapsody ihn noch beobachten konnte, wandte er sich zur Seitenwand, hielt den Körper des Mädchens vor sich und trat in die Erde hinein. Der Granit glühte einen Augenblick, dann kühlte er ab und formte eine Felsöffnung. Achmed folgte Grunthor in den Bunker, den der Riese geschaffen hatte. Er lehnte sich zurück, gab Rhapsody ein Zeichen, und als er sie nicken sah, trat er wieder in die Nische. Grunthor versetzte der Wand einen heftigen Schubs, und der Fels, der weggerutscht war, um den Bunker zu bilden, glitt zurück an Ort und Stelle, sodass er ihr Versteck versiegelte. Langsam drehte Rhapsody sich im Kreis, um noch einmal das Loritorium anzuschauen, wie es einst gewesen war. Die Pfützen mit den silbern schimmernden Erinnerungen funkelten wie Fackeln auf dem Boden und reflektierten das Licht der Flamme im Feuerbrunnen. Sie kämpfte gegen die Verzweiflung, die sie bei dem Gedanken überfiel, dass ein solch edler Traum, ein so verdienstvolles Vorhaben der Vernichtung anheim fallen sollte. Der Drang nach Gelehrsamkeit und die Suche nach Wissen starben auf dem Altar der Gier und des Machthungers.

Als sie sicher war, dass ihre Freunde und das Kind gut im Erdbunker aufgehoben waren und das Felssiegel sich an seinem Platz befand, zog sie die Tagessternfanfare und flüsterte dabei ein Gebet zu den unsichtbaren Sternen meilenweit über ihr, dass sie das Richtige tat. In der mit uraltem Wissen geschwängerten Luft loderte die Flamme hoch auf und schmetterte ihren Fanfarenton. Ein silberner Blitz durchzuckte Rhapsody und die Höhle um sie herum; einen Augenblick lang war sie sicher, dass die Großmutter den melodischen Klang gehört und neuen Mut geschöpft hatte. Rhapsody schloss die Augen und konzentrierte sich, rief sich eine andere alte Frau ins Gedächtnis, eine Kriegerin wie die Großmutter, die allein und ohne Anerkennung für sich eingestanden war und versucht hatte, die Welt vor den F’dor zu beschützen.

Ich lebe schon viel länger, als meine Zeit währen sollte, und warte darauf, dass mich endlich jemand als Wächterin ablöst. Jetzt, da ich jemanden gefunden habe, an den ich mein Verwalteramt weitergeben kann, werde ich endlich zur Ruhe kommen und mit denen wiedervereint sein, die ich liebe. Nicht nur in dieser Welt gibt es Unsterblichkeit, Rhapsody. Die Worte höchster Weisheit von den Lippen des Schlafenden Kindes.

Zünd es an.

Rhapsody kämpfte die Übelkeit nieder, die in ihr aufstieg. Es spielte keine Rolle, dass sie das tat, was die Großmutter ihr befohlen hatte, oder wie notwendig es sein mochte, was ihr bevorstand. Sie war dennoch diejenige, die der letzten Dhrakierin den Tod brachte. Sie würde die Großmutter bei lebendigem Leibe verbrennen. Und da war noch etwas anderes ... etwas, was mit Verbrennen zu tun hatte und irgendwo am Rande ihrer Erinnerung existierte. Doch sie kam nicht darauf es kam ihr so vor, als wäre es aus ihrem Gedächtnis getilgt worden. Rhapsody schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben und sich auf ihr Schwert zu konzentrieren.

Tief in ihrem Innern fühlte sie eine Macht aufsteigen, etwas, das von ihren Händen, welche die Tagessternfanfare umklammerten, ausging und ihren Geist stärkte. Der Zweifel und die Traurigkeit über den bevorstehenden Tod der Großmutter lösten sich auf wie Tau unter den Strahlen der Morgensonne. Sie und das Schwert waren eins.

Das bist du, Rhapsody; ich wusste es von dem Augenblick an, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Selbst wenn du nicht zu den Drei gehören würdest, glaube ich in meinem Herzen, dass du diejenige bist, die das vollbringen kann, die wahre Iliachenva’ar. Rhapsody starrte in die leuchtende Flamme des Feuerbrunnens und lauschte ihrem Lied. Einst war sie durch das Feuer im Herzen der Erde gegangen, dasselbe Feuer, das auch den Ursprung dieser Flamme bildete. Das Feuer hatte sie unversehrt gelassen, es war in ihre Seele eingedrungen, bis es zu einem Teil ihrer selbst geworden war.

Zu dem größten Teil.

Auch jetzt würde es ihr nichts antun. Es wartete nur auf ihren Befehl. Rhapsody richtete die Tagessternfanfare auf den Feuerbrunnen. In der flackernden Flamme konnte sie das Spiegelbild ihrer Augen erkennen, grün brennende Augen, die sich in die zahlreichen Farbschattierungen der Flammen einfügten.

Zünd es an.

»Vingka jai«, sagte sie mit dem tiefsten Wissen einer Benennerin. In ihrer Stimme schwang Autorität und füllte die Höhle des Loritoriums. Brenne und breite dich aus. Ein Feuerball erhob sich, und sie konnte kaum die Augen offen halten. Die züngelnden Flammen der Tagessternfanfare loderten auf in gerechtem Zorn, und vom Schwert zum Feuerbrunnen spannte sich ein funkelnder Feuerbogen. Als die Flamme des Schwerts mit dem Feuer der Erde zusammentraf, bildete sich ein Lichtstrahl, der heller war als alles, was Rhapsody bisher gesehen hatte, heller selbst als das Sternenfeuer bei Jos Begräbnis. Eine Mischung aus Feuer und Erde, aus dem Äther der Sterne und den reinsten Flammen des elementaren Feuers, so schoss der brennende Strahl aus dem Brunnen und entzündete die flüssige Zündschnur, die Achmed ausgelegt hatte, sodass eine wilde Flammenwand bis zum Deckengewölbe emporstieg. Dann fing das Lampenöl mit einem mächtigen Brüllen Feuer. Als der gigantische Feuerball durch den Tunnel und in die Ruinen der Kolonie schoss, erfüllte er den gesamten Raum, sandte flüssige Hitze und gleißendes Licht in jede Ritze, breitete sich aus, bis er auch die hintersten Winkel der Höhlen und Tunnel erreichte. Er brauste über Rhapsody hinweg und erfüllte sie mit elementarer Wärme und Freude. Sie vernahm das Lied des Feuers im Herzen der Erde, ein Lied, das sie in sich trug, seit sie es das erste Mal vernommen hatte. Ihr war, als würde sie abermals wiedergeboren, gereinigt von Schmerz und Kummer, die sie so lange mit sich herumgetragen hatte.

Aus dem Inneren der ehemaligen Kolonie drang ein scheußliches Kreischen und Brüllen, Schreie von dämonischer Kraft, die durch das Loritorium hallten und seine von Flammen versengten Wände zum Erbeben brachten. Rhapsody umfasste ihr Schwert fester und konzentrierte sich mit aller Kraft darauf, das Feuer durch die zerstörten Gänge zu leiten und sich vorzustellen, wie die verschlungene Ranke zu Asche verbrannte.

»Cerant ori sylviat«, befahl Rhapsody. Brenne, bis alles verzehrt ist. Die Heftigkeit der Flammen nahm in der Ferne noch zu und verstärkte das Ächzen der gigantischen Schlangenranke zu einem ohrenbetäubenden Heulen.

Mitten im Brausen des Feuers begann Rhapsody das Lirin-Lied des Übergangs zu singen, ein Klagelied für die Großmutter. Obgleich die Dhrakierin ihr ganzes Leben unter der Erde verbracht hatte, stammte sie auch von den Kith ab, dem Volk des Windes. Vielleicht würde der Wind ihre Asche erfassen und sie über die wilde Welt tanzen lassen, jenen Ort, den sie nie von oben gesehen hatte. Das Lied durchdrang das Getöse und mischte sich harmonisch in das Brausen der Flammen.