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Ihr Reisegefährte war schwieriger zu finden. Hätte Meridion nicht schon vorher gewusst, dass er da war, hätte er ihn niemals entdeckt, denn er war in den Schatten fast vollständig verborgen. So brauchte er eine Weile, um die Umrisse des Mantels auszumachen, der ja dafür gedacht war, seinen Träger vor den Blicken der Welt zu verbergen. Eine schwache Nebelspur stieg von ihm auf und vermischte sich mit dem Tau, der im Sonnenlicht verdunstete. Leider bewahrheitete sich Meridions Verdacht: Der Geschichtenstrang war genau zum falschen Zeitpunkt verbrannt, sodass die Benennerin keine Gelegenheit mehr hatte, einen Blick auf den Botschafter des F’dor zu werfen, ehe er oder sie Ylorc erreichte. Meridion hatte durch ihre Augen gesehen und auf den Moment geharrt, in dem sie den Handlanger des Dämons erspähte, wie der Seher es geraten hatte. Weit in der Ferne konnte er einen schmalen Schatten ausmachen; das war bestimmt die Botschafterkarawane. Die zierliche Frau hatte sie bereits gesehen, aber jetzt war die Gelegenheit vorüber. Und er hatte sie verpasst.

Er dämpfte das Licht im Zeit-Editor und lehnte sich in der Dunkelheit seines Zimmers zurück, um nachzudenken, in seiner Glaskugel schwebend, inmitten der Sterne. Es musste doch noch ein weiteres Zeitfenster geben, eine andere Möglichkeit, wieder in ihre Augen zu gelangen. Meridion blickte durch die endlose Glaswand neben sich und hinunter auf die Erde, viele Meilen unter ihm. Flüssiges schwarzes Feuer kroch langsam über ihre verfinsterte Oberfläche, legte auf seinem Weg ganze Kontinente in Schutt und Asche und brannte rauchlos in der toten Atmosphäre. Am Rand des Horizonts stieg ein neues Glühen auf; bald würden die Brandherde sich treffen, und das Wenige, was noch übrig war, würde ein Raub der Flammen werden. Meridion musste all seine Kraft zusammennehmen, um nicht laut aufzuschreien. In seinen dunkelsten Träumen hätte er sich dergleichen nicht vorzustellen vermocht. In seinen dunkelsten Träumen ... Bei dem Gedanken fuhr er hoch. Die Benennerin konnte in ihren Träumen in die Vergangenheit und die Zukunft sehen, manchmal sogar, wenn sie nur die Schwingungen vergangener Ereignisse las, die noch in der Luft hingen oder die an einem Gegenstand hafteten. Träume gaben Schwingungsenergie ab; wenn er die Spur eines ihrer Träume finden konnte wie Staub, der im Nachmittagslicht sichtbar schwebte, dann konnte er sie zu ihr zurückverfolgen und sich abermals hinter ihren Augen einnisten, in der Vergangenheit. Meridion beäugte die Spule, die den brüchigen, von ihm notdürftig zusammengeklebten Geschichtenfaden hielt; schlaff hing er am Hauptflügel des Zeit-Editors . Kurz entschlossen packte er die alte Rolle und zog den Film mit einem Ruck heraus, wobei er die Bruchstelle sauber unter der Linse des Zeit-Editors platzierte. Dann justierte er das Okular und blickte hindurch. Das Stück Film war dunkel, und zuerst erkannte er so gut wie nichts. Nach einer Weile jedoch gewöhnten sich seine Augen daran, und er erhaschte einen goldenen Lichtschimmer, als die Benennerin in ihrer dunklen Kammer seufzte und sich im Schlaf umherwälzte. Meridion lächelte.

Nach kurzem Nachdenken wählte er zwei silberne Instrumente aus, ein Sammelwerkzeug mit einer haardünnen Spitze und ein winziges Siebkörbchen, an das ein langer schlanker Stiel gelötet war. Das Geflecht des daumennagelgroßen Körbchens war fein genug, dass es selbst das kleinste Staubkorn auffangen konnte. Mit größter Sorgfalt blies Meridion auf das Filmbild und hielt unter der Linse Ausschau nach einer Reaktion. Nichts. Er blies noch einmal, und diesmal stieg ein winziger weißer Funken von dem Faden auf, so klein, dass nicht einmal Meridion mit seinen außerordentlich empfindlichen Augen ihn ohne Vergrößerung hätte sehen können.

Geschickt fing Meridion das Stäubchen mit dem Sammelwerkzeug auf und legte es in den Korb. Dann wartete er, ohne den Vorgang eine Sekunde aus den Augen zu lassen, bis die Lampe des Zeit-Editors den hauchdünnen Faden beleuchtete, der es mit dem Film verband. Schließlich wandte er sich um und atmete aus. Er hatte einen Traumfaden eingefangen. Vorsichtig zupfte er ihn weiter heraus, bis er lang genug war, um ihn unter die stärkste der Linsen zu legen. Ohne den Blick von dem Faden abzuwenden, winkte er in Richtung einer der Behälter, die über dem Editor in der Luft schwebten. Die Türen öffneten sich, und eine winzige Flasche mit einer öligen Flüssigkeit rutschte an die Kante des Innenfachs, sprang dann in die Luft und glitt sanft nach unten, bis sie auf der glänzenden Prismenscheibe zur Ruhe kam, die neben Meridion in der Luft schwebte. Noch immer den Faden fixierend, damit er ihn nur nicht aus dem Auge verlor, entkorkte Meridion die Flasche mit der einen Hand und entfernte behutsam den Tropfenzähler. Dann hielt er sie über den Faden und drückte kräftig. Das Glas unter der Linse schwirrte in rosagelbem Nebel, dann wurde es wieder klar. Meridion streckte die Hand aus und drehte den Sichtschirm zur Wand. Es würde einen Augenblick dauern, bis er sich zurechtfände, aber so war es stets, wenn man aus dem Innern eines Traums heraus beobachtete, den ein anderer ersann.

Albträume

In der Nacht, bevor Rhapsody sich in die Obhut des Mannes gab, den sie kaum kannte, jenes Mannes, dessen Gesicht sie nie gesehen hatte, schlief sie nicht sonderlich gut. Da sie hellsichtig war, also mit der Gabe bedacht war, Visionen aus der Zukunft wie der Vergangenheit zu empfangen, war sie an ruhelosen Schlaf und arge Träume gewöhnt; aber in dieser Nacht war es irgendwie anders.

Lange, qualvolle Stunden lag sie wach und kämpfte mit nagenden Zweifeln, die ihr gewiss als Warnung dienen sollten. Es drehte sich dabei nicht einmal um irgendeine besondere Vorahnung, sondern schlicht um die Regeln des gesunden Menschenverstandes. Bis zum Morgen war sie sich völlig unsicher, ob ihre Entscheidung, ohne den treuen Schutz ihrer Freunde mit diesem Mann auf Reisen zu gehen, wirklich klug war. Das Feuer in dem kleinen, schlecht ziehenden Kamin brannte leise, während sie sich herumwälzte und zwischen Schlaf und Wachen vor sich hin murmelte. Die stummen Flammen warfen pulsierende Lichtflecke auf Wände und Decke ihrer winzigen fensterlosen Schlafkammer tief im Innern des Bergs. Als Achmed in Ylorc König der Firbolg geworden war, hatte er den Sitz seiner Macht den ›Kessel‹ genannt; in dieser Nacht aber hatte er mehr Ähnlichkeit mit der Unterwelt.

Achmed hatte kein Hehl daraus gemacht, dass er Rhapsodys Plan, den Berg zusammen mit Ashe zu verlassen, ganz und gar nicht billigte. Von dem Augenblick an, als die beiden Männer sich auf den Straßen von Bethe Corbair begegnet waren, hatten sie ein offenkundiges Misstrauen gegeneinan der gehegt; die Spannung, die in der Luft lag, ließ Rhapsodys Kopfhaut prickeln, als wäre sie statisch aufgeladen. Doch Vertrauen gehörte sowieso nicht zu Achmeds hervorstechenden Eigenschaften. Mit Ausnahme von ihr und Grunthor, seinem riesenhaften Sergeanten und langjährigen Freund, beehrte er, soweit Rhapsody wusste, niemanden damit. Im Grunde machte Ashe einen recht netten und harmlosen Eindruck. Bereitwillig hatte er Rhapsody und ihren Gefährten in Ylorc, ihrer abweisenden Bergheimat, einen Besuch abgestattet. Ihm schien es nichts weiter auszumachen, dass Ylorc das Lager der Firbolg war und dass diese primitiven, zuweilen recht grausamen Kreaturen von den meisten Menschen als wahre Ungeheuer gefürchtet wurden.

Ashe hatte keinerlei Vorurteile gezeigt; freundlich hatte er mit den grimmigen Bolg-Häuptlingen am selben Tisch gespeist, hatte sich nicht weiter an deren ungehobelten Tischmanieren gestört und geflissentlich ihre Angewohnheit ignoriert, Knochensplitter auf den Boden zu spucken. Und er hatte ohne zu zögern zu den Waffen gegriffen, um das Firbolg-Reich gegen einen Angriff der Hügel-Augen zu verteidigen, dem letzten Stamm, der Achmed bisher noch nicht die Lehenstreue geschworen hatte. Seine Regentschaft als Kriegsherr war ja noch verhältnismäßig neu und längst nicht eingespielt. Falls es Ashe in irgendeiner Weise belustigte oder ärgerte, dass Rhapsodys Gefährten zu solch monströser Größe aufgestiegen waren, zeigte er es jedenfalls nicht.