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Nicht einmal die Bewusstlosigkeit gönnte ihm eine Atempause von dieser Folter. Die wenigen Nachtvisionen, die sein scheußlicher Halbschlaf ihm jetzt schenkte, waren verschwommen und schmerzlich. Im Allgemeinen waren es Albträume über sein jetziges Leben oder noch schlimmere Erinnerungen an früher. Schwer zu sagen, welche Art von Traum schlimmer war. Das Drachenblut in seinem Innern, seine Doppelnatur, die fremd und doch sein Eigen war, ruhte im Augenblick und erlaubte ihm ein paar Atemzüge voll Frieden in der stetigen Qual seines Daseins. Wenn sie erwachte, würde sie aufs Neue auf ihn einflüstern, ihn mit tausend törichten Beteuerungen bedrängen, mit tausend unerfüllbaren Forderungen. Aber jetzt war das ständige Dröhnen wenigstens für eine kleine Weile verstummt, in den Hintergrund seines Bewusstseins gedrängt von der Süße des Traums, den er in dieser seiner letzten Nacht im seltsamen Reich von Ylorc träumte.

In der Stille des Gästezimmers, das er jetzt bewohnte, träumte Ashe von Emily. Jahre, ja sogar Jahrzehnte war es her, dass sie seine Träume mit ihrer Gegenwart beglückt hatte, die schöne, unschuldige Emily, seine Seelengefährtin, nun schon seit über tausend Jahren tot. Nur ein einziges Mal war er ihr begegnet, nur einen einzigen Abend hatte er mit ihr verbracht, und hatte doch schon beim ersten Blick gewusst, dass sie seine andere Hälfte war, die Hälfte, die ihn vollständig machte.

Auch sie hatte es erkannt, hatte ihm in jenem kurzen Augenblick gesagt, dass sie ihn liebe, hatte ihm ihr Herz geschenkt, ihr ganzes Vertrauen und ihre Tugend; sie hatte mit ihm das vollzogen, was sich anfühlte wie eine Hochzeit, obgleich sie beide kaum der Kindheit entwachsen waren. Eine einzige gemeinsame Nacht. Und nun wehte ihre Asche im Wind der Zeit, auf der anderen Seite der Welt, ein Leben entfernt. Die einzige Spur, die von ihr übrig geblieben war, verbarg sich in der modrigen Gruft seiner Erinnerung. Aber während Emily tot war, verloren in der Vergangenheit, existierte Ashe halb lebendig in der Gegenwart. Er führte ein verschwiegenes Dasein, verborgen vor denen, die ihn jagten, beherrscht von dem Einen, der ihn nach seinem Belieben manipulierte. Aus diesem Grund zog er durch die Welt in einem Mantel, der über die Kraft des Wassers verfügte, verliehen von Kirsdarke, dem Schwert, das aus diesem Element geformt und ihm anvertraut war. Der Mantel hüllte ihn in Nebel und schützte ihn vor jenen, die seine Schwingungen im Wind lesen konnten.

Außerdem verbarg ihn seine lebendige Hülle auch vor den Augen der restlichen Welt. Jetzt war er hier, im Reich der Bolg, mit dem Befehl, die drei zu beobachten, welche über die Ungeheuer von Ylorc herrschten, und darüber Bericht zu erstatten. Ashe hasste es zwar, auf diese Weise benutzt zu werden, aber er hatte keine Wahl. Dies war einer der zahlreichen Nachteile, die daraus entstanden, dass sein Leben nicht ihm selbst gehörte, dass sein Schicksal in den dunklen Händen eines anderen lag. Das einzig Angenehme an seinem Auftrag war, dass er es ihm erlaubte, sich in Rhapsodys Nähe aufzuhalten. Von dem Augenblick an, als der Drache in seinem Blut ihre Präsenz zum ersten Mal gefühlt hatte, damals auf den Krevensfeldern, da hatte sie ihn gegen seinen Willen in ihren Bann geschlagen, und er hatte sich von ihr angezogen gefühlt wie die Motte vom Licht, so heftig wie das Feuer, das im Schoß der Welt brannte. Als er ihr begegnet war, waren beide Teile seiner Natur, der Drache und der Mann, ihrem Zauber zutiefst verfallen. Wäre er mehr ein lebendiger Mann gewesen und nicht nur eine Hülle, dann hätte Ashe ihr vielleicht widerstehen können. Doch nun fürchtete er sie fast ebenso sehr, wie sie ihn bezauberte.

Sam. Der Name hallte durch sein Gedächtnis, und beim Klang von Emilys sanfter Stimme stiegen ihm Tränen in die Augen, sogar im Schlaf. Sie hatte ihn Sam genannt, und er hatte es geliebt. Viel zu früh hatten sie sich getrennt, er hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, sie zu berichtigen.

Ich kann’s noch gar nicht fassen, dass du wirklich da bist, hatte sie in dieser Nacht geflüstert, in dieser einen, so lange vergangenen Nacht, unter einem endlosen Sternenhimmel. In seinen Träumen hörte er noch immer ihre Stimme. Woher kommst du eigentlich? Ich habe dich herbeigesehnt. Bist du gekommen, um mich vor der Lotterie zu retten und zu entfuhren? Ich habe vergangene Nacht, gleich nach Mitternacht, meinen Glücksstern gebeten, dich zu mir zu schicken. Und hier stehst du vor mir. Woher du kommst, weißt du anscheinend selbst nicht, oder? Habe ich dich von weither herbeigewünscht? Damals war er zu dem Schluss gekommen, dass ein Zauber in ihr wohnte, und das glaubte er noch immer. Ein Zauber, der stark genug war, ihn über die Wogen der Zeit zu bringen, weit zurück in die Vergangenheit, wo er sie wartend in Serendair vorfand, einem Land, das vierzehn Jahrhunderte vor seiner Geburt im Meer versunken war.

Alles nur ein Traum, hatte sein Vater behauptet und versucht, ihn zu trösten, als er sich in seiner eigenen Zeit wieder fand, allein, ohne sie. Die Sonne war hell, sicher hast du die Hitze nicht vertragen.

Ächzend drehte sich Ashe auf die andere Seite; jetzt war ihm die Hitze tatsächlich unangenehm. Das Feuer in dem kleinen Kamin flackerte und pulsierte und überflutete ihn mit Wellen seiner Wärme. Wieder tauchte Rhapsody in seinen Gedanken auf. Ihr Bild entfernte sich ohnehin nie weit aus seinem Bewusstsein, denn sie übte auf den Drachen eine enorme Faszination aus. Noch immer brannten seine Fingerspitzen und seine Lippen von unerfülltem Verlangen, sie zu berühren, diesem Verlangen, das als Folge der ungestillten Sehnsucht des Drachen wie Säure in ihm aufgewallt war, als er sie zum ersten Mal erblickt hatte. Grimmig kämpfte er darum, sie aus seinen Gedanken zu verbannen, und griff dabei blind auf die süße Erinnerung zurück, die erst einen Augenblick zuvor wieder aufgetaucht war.

»Emily«, rief er, aber der Traum entzog sich ihm und löste sich in einer Ecke seines Zimmers auf, jenseits seiner Reichweite.

Im Schlaf tastete er in einer kleinen Tasche des Nebelmantels herum, bis seine Finger das berührten, was er suchte, klein und hart in seinem Samtbeutel, verschlissen nach all den Jahren, die es ihm nun schon als Talisman gedient hatte. Ein winziges Silberstück, herzförmig, bescheiden gearbeitet, ein Geschenk von der Frau, die er geliebt hatte. Es war das Einzige, was ihm von ihr geblieben war, dieses Geschenk und seine Erinnerungen, die er so leidenschaftlich hütete wie ein Drache seinen größten Schatz.

Das Silberherz tat seine Wirkung und brachte ihm Emily wieder nahe, wenn auch nur für einen Augenblick. Noch immer konnte er das Gefühl hervorrufen, das er verspürt hatte, als er unabsichtlich den Knopf von ihrem Mieder abgerissen hatte, weil seine Hand vor Angst und Aufregung so gezittert hatte. Noch immer konnte er das Lächeln in ihren Augen sehen.

Behalt ihn, Sam. Zur Erinnerung an diese Nacht, in der ich dir mein Herz geschenkt habe. Er hatte ihren Wunsch erfüllt und den herzförmigen Silberknopf neben seinem von Narben bedeckten Herzen getragen, eine Erinnerung an das, was er verloren hatte. Endlos hatte er nach ihr gesucht, in den Museen und Archiven, im Haus der Erinnerungen, im Gesicht jeder Frau, jung und alt, deren Haar die Farbe von fahlem Flachs an einem Sommertag hatte, wie das von Emily damals in der Dunkelheit. Jedes weibliche Handgelenk hatte er sorgfältig geprüft, ob es die winzige Narbe aufwies, die in sein Gedächtnis eingebrannt war. Natürlich hatte er sie nicht gefunden, und die Seherin der Vergangenheit hatte ihm versichert, dass sie auf keinem der Schiffe gewesen war, die aus Serendair geflohen waren, ehe das Vulkanfeuer die Insel verzehrt hatte.

Mein Junge, ich muss dich enttäuschen. Unter denen, die auf den Schiffen hatten fliehen können, bevor die Insel unterging, war keine, die deiner Beschreibung entspricht. Sie hat es nicht geschafft. Sie ist nicht angekommen.