»O ja, du gibst eine prächtige kleine Spionin ab, nicht wahr, meine junge Dame?«, meinte er mit übertriebener Höflichkeit und lächelte angesichts des Entsetzens in den blitzenden schwarzen Augen. »Aber anscheinend sind deine Fähigkeiten noch nicht so überragend, wie du geglaubt hast. Du musst daran arbeiten.« Er ließ die Locken los und strich ihr sanft über den Kopf; dann schritt er weiter den Gang entlang. Das klappernde, metallische Geräusch seiner Gehmaschine hallte durch die gesamte ruhige Festung.
Das Mädchen war immer noch erschüttert und sah ihm nach, bis der Lärm allmählich verhallte. Dann eilte es im nächtlichen Dämmerschein zurück in die Speisekammer. Das Licht der großen Lampen machte ihren Schatten immer länger und ihr Haar immer dunkler, bis sie schließlich im Zwielicht verschwand.
10
Der Wind, der vom Meer her blies, frischte gegen Ende des Winters auf und wurde immer stärker, als der Frühling nahte. Die vorherrschenden Luftströmungen trugen das Wetter meilenweit ins Land hinein; der Dunst des sich erwärmenden Ozeans legte sich über die Küstenorte und Wälder wie ein Traum, aus dem das Land erwachen wollte, und machte sich auf den nebligen Weg nach Osten.
Rath fluchte, als ihm noch mehr eisiges Wasser um den Kopf peitschte und an seinem Hals herabrann. Die Fähigkeit, zwischen die einzelnen Windstöße zu treten und von den Strömungen über weite Strecken getragen zu werden, ersparte ihm langes Gehen und war ein großer Vorteil seiner Rasse und Art, doch sie war nicht umsonst zu haben. Der Weg, auf dem er so reiste, bestand aus einer Welle aus Klängen, die oft für das menschliche Ohr unhörbar waren. Sie trieben im Wind und verankerten sich je an zwei Enden in der körperlichen Welt. Rath befand sich schon lange genug in der Oberwelt, um Anfang und Ende solcher Wellen zu erkennen, und war daher häufig in der Lage, den Wind zu seinem Nutzen einzusetzen. Es war wie das Öffnen einer Tür, wodurch ein Luftzug bis zum anderen Ende blies. Dadurch sparte er Zeit auf seinen Reisen und gelangte unbemerkt über weite Strecken.
Doch manchmal war der Wind launisch und weigerte sich, wie ein bockiges Pferd oder ein Esel geritten zu werden. Wenn dies geschah, fand sich Rath weitab von seinem geplanten Kurs entfernt wieder. Manchmal stellte sich ein freundlicher Wind erst dann als böse heraus, wenn Rath sich bereits in dessen Armen befand und einer Strömung folgte, die zunächst klar und stark gewesen war, nur um dann weitab seines Zieles unsanft in einem Sumpf, einem Dunghaufen oder sogar mitten in einem Teich abgesetzt zu werden. Auch war es unvorhersehbar, welches Wetter der Wind mitbrachte, und so fand sich Rath bisweilen in Graupelschauern wieder, wurde von allen Seiten mit Hagelkörnern beworfen oder vom Regen durchtränkt, auch wenn er ursprünglich in einen angenehmen, trockenen Wind getreten war.
Um es kurz zu machen: Das Wandern im Wind war ein notwendiges Übel. Aber es war die einzige Möglichkeit, wie einer seiner Art die Welt rasch genug durchschreiten konnte, um dem einen verdämmernden Herzschlag oder dem Flüstern eines dämonischen Namens zu folgen.
Der Wind ließ am Ende der Klangwelle nach, und Rath taumelte aus der Strömung wieder in die fest gefügte Welt hinein.
Er zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht und schaute sich um.
Der Ort, zu dem ihn der bockige Wind gebracht hatte, kam ihm entfernt bekannt vor, doch Rath wusste nicht, ob er vor langer Zeit schon einmal hier gewesen war oder ob jedes kleine, stinkende Bauerndorf in dieser hinterwäldlerischen Gegend einfach nur gleich aussah. Wie dem auch sei, er war an einem Ort aufgetaucht, der so verschlafen und gesichtslos wie nur möglich war.
Hinter ihm ragte ein dichter Hain aus Bäumen und Stechpalmen auf, den Rath schnell betrat. Zwar sah er keine Dorfbewohner, doch seine empfindliche Haut fing Schwingungen auf, welche die Nähe von Menschen anzeigten, die zwar vermutlich nichts von seiner Gegenwart ahnten, ihn aber sehen könnten, wenn er sich ihnen offen zeigte.
Sobald er außer Sichtweite war, sang er wieder seine Litanei.
Hrarfa, Fraax, Sistha, Hnaf, Ricken.
Er schmeckte im Wind nach jedem einzelnen Namen und richtete seine ganze Aufmerksamkeit darauf, bis ihm die Kehle trocken wurde und seine Haut brannte, doch wie immer fand er nichts. Er lauschte auf die Kirais seiner Mitjäger, doch auch hier entdeckte er nur Schweigen oder nichts sagende Berichte. Die Suchlieder seiner Artgenossen hatten keine neuen Spuren oder Herzschläge gefunden – keine Anzeichen für die F’dor, nach denen die Jäger auf der Hatz waren.
So war es bisher fast immer gewesen.
Rath stieß langsam die Luft aus, als sich das Band zu den Gedanken seiner Mitjäger auflöste. Er wollte schon weitergehen, doch plötzlich war ein saurer Geschmack in seinem Mund, der Geschmack von etwas Bösem oder vielleicht auch nur von etwas Falschem, der nun dort war, wo sich noch einen Augenblick zuvor nichts als Luft befunden hatte. Gemeinheit, Bösartigkeit und Hass waren für ihn so deutlich spürbar, dass sie oft beißende Spuren im fließenden Wind hinterließen. Raths Herz schlug etwas schneller, doch seine inneren Sinne waren noch nicht entflammt. Während der Jahrtausende seines Lebens hatte er so etwas schon öfter verspürt; es waren immer falsche Fährten gewesen, die ihn von seinem Weg abgebracht hatten.
Schließlich waren die F’dor nicht die einzigen Wesen auf der Welt, die zu schrecklicher Bösartigkeit in der Lage waren.
Rath hatte keine Zeit für diese anderen Geschöpfe. Seine Mission war älter als der größte Teil der Welt und in sein Blut eingeschrieben, und so blendete er alles andere aus.
Er sog die Luft durch die Nase ein. Seine empfindsamen Nebenhöhlen spürten auch noch die geringsten Anzeichen auf, doch was immer sich im Wind befunden hatte, war verschwunden, falls es überhaupt je existiert hatte.
Rath richtete seine Aufmerksamkeit nicht länger auf die Ablenkung, sondern versuchte wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Erneut ließ er seinen Kirai los; diesmal rief er den Namen des lebenden Mannes, den er suchte.
Ysk.
Erneut kam ein leiser und ferner Ton zurück, der jedoch so deutlich war, dass Rath ihn zweifelsfrei erkannte. Er versuchte die Schwingung festzuhalten, doch auch sie entschlüpfte ihm.
Einen Moment später erkannte er den Grund dafür.
Sie kam aus einer anderen Richtung als der, in welcher er sie zuerst entdeckt hatte.
Das Signal, das er bei seiner Landung aufgenommen hatte, war aus Südosten gekommen. Er war den vorherrschenden Winden in diese Richtung gefolgt und hatte gehofft, bald auf eine stärkere Schwingung zu stoßen.
Rath hatte vermutet, dass der Name in jenem Land erklungen war, das die anderen Jäger, die vor nicht allzu langer Zeit diesen Kontinent bereist hatten, als Bolgland bezeichnet hatten – jenes Gebiet, in dem früher einmal Canrif, der Herrschersitz des cymrischen Reiches, gelegen hatte. Doch jetzt kam die etwas deutlichere und reinere Schwingung aus Nordosten von einem Ursprung, der nicht weit entfernt war.
Rath atmete tief ein und ließ dann alle Luft aus seiner Lunge entweichen. Sein Ziel hatte sich bewegt, und überdies war der tote Name erst kürzlich erklungen und hatte eine neue Schwingung erschaffen, der Rath nun folgen konnte.
Er schloss die Augen, hob eine Hand in den Wind, öffnete den Mund ein wenig und fischte nach der neuen Strömung einer starken nordöstlichen Brise, die ihn näher an sein Ziel heranbringen würde.
Ein Schock durchfuhr ihn, als er von hinten plötzlich einen heftigen Schlag erhielt, der ihm die Luft aus der Lunge trieb, während er mit Kinn und Zähnen voran auf den verschneiten Boden fiel.
Rath war in einem Augenblick der Unaufmerksamkeit erwischt worden. Er keuchte auf und sog das Blut ein, das sich nun aus seinen empfindlichen Nebenhöhlen ergoss. Entsetzt hörte er raues Gelächter sowie Grunzen und Schlurfen, während er im Schnee auf den Rücken gedreht wurde. Beine und Bauch erhielten Schläge von etwas, das sich wie schwere Keulen anfühlte.