»Du musst etwas für mich tun, das ich niemand anderem auf der ganzen Welt anvertrauen kann, Melly«, sagte sie mit leiser, aber fester Stimme. Die Worte ertönten in einer Klarheit, welche Melisande als die Benennergabe des Wahrsprechens erkannte. Sie reckte die Schultern und war bereit für das Wichtige, das nun kommen würde.
»In dieser Nacht werde ich einen Botenvogel zu Gavin schicken und ihn bitten, genau das zu tun, was du ihm bei deiner Ankunft befehlen wirst. Ich kann dir diese Botschaft nur mündlich mitteilen, denn wenn sie in falsche Hände geraten sollte, wäre das eine Katastrophe.« Melisande, die durch eine solche Katastrophe zur Waisen geworden war, nickte feierlich und begriff die ganze Schwere von Rhapsodys Worten.
»Sobald du im Kreis angekommen bist, bittest du Gavin darum, er möge dich und ein volles Kontingent seiner besten Waldläufer sowie seinen fähigsten Heiler zum Wald nordnordöstlich des Tar’afel schicken, dort wo die Stechpalmen am dichtesten stehen. Es ist heiliges Land, und ich kann dir keine Karte mitgeben, denn ‚auch sie könnte in falsche Hände geraten. Gavin kenn jedoch den Ort. Sag ihm, seine Waldläufer sollen dort ausschwärmen und einen Abstand von einer halben Neile zueinander halten. Sie müssen eine Barriere bilden die sich nach Nordwesten bis zum Meer erstreckt, und dabei sollen sie alle ihnen zur Verfügung stehenden Fallen und Schlingen einsetzen, die zum Schutz der Barriere nötig sind. Dort müssen sie bleiben und keiner lebenden Seele den Zutritt erlauben. Sie sollen die Wälder nach einer vermissten Firbolg-Hebamme namens Frinsel durchkämmen, und falls sie auf sie stoßen, sollen sie ihr sowohl Ehrerbietung erzeigen als auch sie zurück zur bewachten Karawane geleiten, die sie nach Morc bringen wird. Hast du mich bis hierher verstanden?«
»Ja«, sagte Melisande. Sie wiederholte die Anweisungen in allen Einzelheiten, und die smaragdgrünen Augen der cymrischen Herrscherin glitzerten vor Anerkennung.
»Gavin wird dich persönlich von diesem Ort aus weiterführen. Ein Bach ergießt sich dort in den Tar’afel. Ihr werdet ihm nordwärts folgen, bis ihr zum Spiegelsee kommt. Ihr werdet ihn sofort erkennen, denn sein Name beschreibt ihn vollkommen. Bei diesem See wirst du Gavin verlassen und allein Weiterreisen. Er wird dort auf dich warten, aber nicht länger als drei Tage. Falls du dann noch nicht zurückgekommen sein solltest, muss er wieder zum Kreis gehen.« Sie machte eine Pause, und Melisande wiederholte die Anweisungen erneut fehlerlos mit ruhigem, ausdruckslosem Gesicht. »Du wirst auf die gegenüberliegende Seite des Sees gehen. Dort wirst du einen kleinen Hügel bemerken. In ihm befindet sich, versteckt vor allen Augen, eine Höhle. Ihr Eingang ist etwa zwanzig Fuß hoch, und auf der Höhlenwand vor der Öffnung wirst du eine Inschrift finden: Cyme we inne frið, fram the grip of deaþ to lif inne ðis smylte land.«
Melisandes kleines Gesicht leuchtete vor Erregung.
»Elynsynos! Du schickst mich zu Elynsynos!«
»Psst«, warnte Rhapsody sie, auch wenn sie bei dieser Reaktion ein Lächeln nicht verbergen konnte. »Ja.«
»Ich erinnere mich aus dem Geschichtsunterricht an diese Worte«, sagte Melisande. »Cyme we inne frið, fram the grip of deaþ to lif inne ðis smylte land. Wir kommen in Frieden aus der Umklammerung des Todes, um in diesem schönen Land zu leben. Das ist die Inschrift, die Merithyn der Entdecker in ihre Höhle gemeißelt hat, den Geburtsort des cymrischen Volkes. Und so sind wir zu diesem Namen gekommen.«
»Du musst ehrerbietig sein, wenn du dich ihrem Nest näherst«, fuhr Rhapsody nachdrücklich fort. »Geh leise, geh langsam und halte alle paar Schritte inne, um zu lauschen. Wenn du warme Luft aus der Höhle dringen spürst oder hörst, wie die Blätter der Bäume hörbar rascheln, dann bleib stehen und bitte um die Erlaubnis, eintreten zu dürfen.«
»Das werde ich tun«, versprach Melisande mit strahlendem Gesicht.
Rhapsody hockte sich hin und fuhr mit den Händen über die Arme des Mädchens.
»So sehr ich auch darum bete, dass es so sein wird, fürchte ich doch, du wirst nichts hören«, sagte sie, während die blassgoldene Haut ihres Gesichts rosig wurde. »Ich habe Angst, Melisande, dass du sie tot oder verletzt vorfinden wirst, oder vielleicht ist sie auch gar nicht da. Falls sie tot sein sollte, kehrst du zu Gavin zurück und berichtest ihm, was du gesehen hast. Falls sie verletzt ist, aber noch sprechen kann, fragst du sie, was du tun sollst. Sollte sie das nicht sagen können, gehst du ebenfalls zu Gavin zurück, begibst dich aber mit dem Heiler wieder in die Höhle und bleibst bei Elynsynos, während man sich um ihre Wunden kümmert.
Falls sie aber verschwunden sein sollte, beauftragst du Gavin, die Höhle zu versiegeln. Große Schätze liegen in ihr, von denen viele nicht auf den ersten Blick erkennbar sind. Wenn das Nest geplündert wird, bedeutet das noch größeren Schaden für den Kontinent als die mögliche Entdeckung von Elynsynos’ Tod. Und nimm dort nichts an dich, Melisande – nicht einmal einen Kieselstein. Das wäre eine Entweihung.«
»Ich verstehe.«
Rhapsody richtete sich wieder auf. Ihre Hände ruhten noch immer auf den Wangen des Mädchens. »Das weiß ich«, sagte sie, während ihre Augen vor Stolz leuchteten. »Du musst auch dies verstehen: Wenn durch deine Bemühungen Elynsynos gefunden und geheilt wird, dann erweist du damit dem gesamten Kontinent den größten Dienst, den er je von jemandem erfahren hat. Selbst wenn es zu spät sein sollte …« Sie schluckte; ihr Mund war plötzlich trocken geworden. »Selbst wenn es so sein sollte, ist deine Tat von größerer Wichtigkeit, als ich dir klarmachen kann.«
»Ich bin bereit«, sagte Melisande.
Rhapsody lächelte, beugte sich vor und küsste ihre adoptierte Enkeltochter.
»Wir würden dich nicht losschicken, wenn wir anderer Meinung wären«, meinte sie. Dann schwenkte sie die Hand in Richtung des Nebelkreises, und die plappernden Stimmen verstummten. Der glitzernde Kreis zerbrach und löste sich auf; die Wassertropfen stiegen langsam zum Boden herab wie die fallenden Funken eines Lagerfeuers.
»Wohin soll ich gehen, wenn meine Mission beendet ist?«, fragte die junge Herrin von Navarne besorgt, als Gerald Owen wieder den Raum betrat und höflich kurz hinter der Schwelle stehen blieb.
Rhapsody dachte nach, legte dann den Arm um das Mädchen und ging mit ihr zur Tür.
»Ich vermute, Ashe will dich dann in der Hohen Warte sehen«, sagte sie, während sie auf den Kammerherrn zugingen. »In den vier Jahren, die es gedauert hat, sie zu errichten, ist sie zur stärksten und bestkonstruierten Festung geworden, die ich je auf dem Kontinent gesehen habe. Sie übertrifft sogar die Bollwerke von Tyrian, die ihrerseits großartig sind. Es gibt keinen Ort auf dem ganzen Kontinent, an dem du sicherer aufgehoben wärest.«
Melisande küsste ihre Großmutter auf die Wange, dann trennten sich die beiden auf dem Gang.
»Es erscheint mir so, als bedeutet das nicht viel.«
Die cymrische Herrscherin seufzte.
»Da ich leider der Wahrheit verschworen bin, kann ich dir nicht widersprechen. Ich liebe dich, Melisande, und wünsche dir eine gute Reise.«
Der Kammerherr und das Mädchen sahen ihr nach, als sie in einem Rauschen von Brokat davonging. Ihr goldenes Haar fing das Laternenlicht ein, während sie an den Wandleuchtern des Korridors vorbeischritt. Es war, als nehme sie das Licht mit, denn im Korridor schien es dunkler geworden zu sein, als sie fort war.
12
Gwydion Navarne und Anborn waren damit beschäftigt, vor dem knisternden Kaminfeuer die Position der vereinigten Truppen und ihre Entfernung zu den bekannten Vorposten Sorbolds in eine Karte einzutragen, als plötzlich jemand an die Tür des Arbeitszimmers klopfte. Ohne auf Antwort zu warten, wurde sie geöffnet, und Rhapsody trat ein. Ihre Miene spiegelte Gelassenheit wider, aber ihre Haut wirkte blass und blutleer, entweder aus Schwäche oder aus Sorge.