Anborn sah verärgert auf.
»Was willst du?«
»Ich bin gekommen, um auf Wiedersehen zu sagen.«
Der Marschall nahm seine Brille ab und legte sie auf die Landkarte.
»Nein«, sagte er knapp. »Keine Zeit. Ich habe zu tun. Geh weg.«
»Aber ich werde schon in wenigen Augenblicken aufbrechen«, sagte Rhapsody verdutzt. So redeten sie oft miteinander; sie hatte sich schon seit langem an Anborns barsche Art gewöhnt und wusste, dass sie etwas tiefer Liegendes verbarg – vermutlich Angst um ihre Sicherheit und wohl auch um die des Kontinents. »Du kannst doch wenigstens eine kleine Pause machen und mir eine gute Reise wünschen.«
»Bist du taub? Nein. Das werde ich nicht.«
Rhapsody wandte sich an Gwydion Navarne, dem offensichtlich unbehaglich zumute war.
»Entschuldige uns für einen Moment, Gwydion«, sagte sie. »Ich glaube, Ashe braucht dich bei den Vorbereitungen. Wir reisen ab, sobald die Pferde gefüttert und gezäumt sind.«
Der junge Herzog nickte und verließ das Zimmer.
Rhapsody kam hinüber zu Anborns Stuhl und starrte auf den Marschall herunter. Sein Haar war noch immer schwarz wie die Nacht, wenn man von einigen silbernen Streifen absah, die in den vier Jahren ihrer Bekanntschaft etwas breiter geworden waren. Sein Oberkörper war ebenfalls noch muskulös und stark, aber Anborn hatte das Gebaren eines Mannes, der stärker gealtert war, als es die Jahre ahnen ließen. Er ist vor meinen Augen alt geworden, dachte Rhapsody. »In Ordnung«, sagte sie brüsk, »jetzt sind wir allein. Was soll dieser Unsinn?«
Anborn stieß müde die Luft aus. »Erinnerst du dich daran, dass ich dir je Lebewohl gesagt hätte, abgesehen von den wenigen kostbaren Gelegenheiten, zu denen ich dir sogar einen Abschiedskuss gegeben habe, als wir einander die Heirat versprochen hatten?«
Röte stieg in das Gesicht der cymrischen Herrin. Anborns Anspielung bezog sich auf eine Zeit, an die sie nur ungern dachte. Es waren verwirrende Tage gewesen, in denen sie ihn gebeten hatte, ihr in ihrer Eigenschaft als lirinische Königin ein nicht liebender Gemahl zu sein. Der Marschall hatte es gutmütig hingenommen und sie von ihrem Versprechen entbunden, als er ihre Liebe zu seinem Neffen entdeckt hatte, doch dies war das erste Mal, dass er sie im Scherz als seine Beinahe-Gemahlin bezeichnete.
»Nein«, sagte sie zögernd.
»Und ich habe es auch jetzt nicht vor. Wir beide haben Aufgaben zu erledigen, die uns von diesem Ort wegführen; du brichst lediglich als Erste auf. Ich habe nicht das Verlangen, diesen Aufbruch mit einem solchen Wort zu bezeichnen. Es sei denn, du willst, dass ich dich vorher küsse – so etwas nimmt dem Abschied normalerweise den Stachel.« Er zuckte zusammen, als ihre Augen feucht wurden, und schüttelte dann den Kopf. »Vergib mir. Ich bin grob und unhöflich zu dir, und das hast du nicht verdient. Nicht dir sollte ich das Lebewohl verweigern; ich hätte eher das gegenüber jemandem tun sollen, der vor sehr langer Zeit gelebt hat.« Er musste kichern, als er beobachtete, wie sie die Lippen zusammenkniff, um die Frage zu unterdrücken, die sie beinahe gestellt hätte. »Danke, dass du nicht fragst. Eines Tages werde ich dir die Geschichte erzählen, wenn wir zwanglos beisammensitzen und mit meinem Großneffen spielen.«
Rhapsody lächelte schwach und legte eine Hand an ihre Wange, die wieder blass geworden war. »Einverstanden«, sagte sie, »aber nur, wenn du es wirklich willst.«
Anborn seufzte. »Es gibt nicht mehr viel, was ich wirklich will, Rhapsody. Ich habe zu lange gelebt und zu viel gesehen, um mir noch irgendetwas zu wünschen. Diese verdammt lange Lebensspanne, die mir entweder durch meinen Vater und seine Versuche, die Zeit zu überlisten, oder durch das Drachenblut meiner Mutter verliehen wurde, hat mir eine bittere Weltsicht verschafft. So ist das nun einmal mit dieser dämlichen Langlebigkeit. Sie bringt Zynismus hervor, denn sie sorgt dafür, dass die beinahe Unsterblichen im Gegensatz zum Rest der nichts ahnenden Menschheit wissen, dass sie nie wirklichen Frieden haben werden. Du bist auf ähnliche Weise verflucht, hast es jedoch noch nicht bemerkt. Wenn man lange genug lebt, lernt man, dass es so etwas wie Frieden nicht gibt, sondern nur längere oder kürzere Abstände zwischen den Kriegen. Das Leben wird zu einer endlosen und oft anstrengenden Reihe von entsetzlichen Abschieden, es sei denn, man lernt, die Rückkehr aller Personen, um die man etwas gibt, nicht mehr zu erwarten. Ich habe diese Lektion auf die schlimmstmögliche Weise gelernt, Rhapsody. Ich wünsche dir eine sichere und glückliche Reise und drücke hiermit meine Hoffnung und Erwartung aus, dass du und dein Kind bei den Firbolg in Sicherheit sind und deine Bemühungen für den Ausgang des Krieges fruchtbar sein werden. Aber ich werde dir nicht auf Wiedersehen sagen.«
Die Herrin der Cymrer lächelte; ihr bleiches Gesicht nahm für kurze Zeit wieder etwas Farbe an. »Also gut.« Sie griff in ihre Ledertasche, holte eine große Muschel heraus und drehte sie in ihren kleinen Händen hin und her. Anborn sah ihr zu, wie sie geistesabwesend die gehörnte Spitze mit den schwieligen Kuppen ihrer langen, dünnen Finger liebkoste, die in den unzähligen Jahren, in denen sie auf ihren Saiteninstrumenten gespielt hatte, hart geworden waren, ähnlich den harten Stellen an seinen eigenen Fingern, die vom jahrhundertelangen Spannen der Bogen herrührten. Seltsam, dachte er, als sie seine Hand ergriff, die vernarbte Handfläche nach oben drehte und die Muschel hineinlegte, wonach sie die schon oft gebrochenen Finger sanft zusammendrückte. Ich vermute, wir beide machen jeder auf unsere eigene Weise Musik – sie, um die Herzen zu erfreuen, und ich, um sie mit Pfeilen zu durchbohren.
Rhapsody bemerkte den Ausdruck schwacher Belustigung auf seinem Gesicht und lächelte.
»Als ich vor langer Zeit auf der Insel zur Geschichtensängerin ausgebildet wurde, kannte ich einen Schankwirt namens Barney.« Sie kicherte. »Wusstest du schon, dass alle Schankwirte in Serendair Barney hießen? Jeder einzelne von ihnen?«
Anborn betrachtete die Muschel. »Nein. Warum?«
»Der Legende nach hat einmal ein Schankwirt namens Barney, während er seinen Rum ausschenkte, etwas mitbekommen, das er nicht mitbekommen sollte, und der gefährliche Mann, dessen Name in dem Gespräch erwähnt worden war, das nicht für Barneys Ohren bestimmt gewesen war, schickte einen gedungenen Mörder aus einer weit entfernten Stadt los, damit dieser den Schankwirt ausfindig machte und tötete. Also verließ jener Barney den Ort bei Nacht und Nebel und schlug sich nach Ostend durch, der größten Hafenstadt in Serendair. Dort fand er eine andere Stelle als Schankwirt in vermeintlicher Sicherheit. Es verging ein Jahr oder mehr, doch der Mörder war geduldig und fand schließlich heraus, dass Barney nun in Ostend lebte. Also begab er sich in diese Stadt, weil er seinen Auftrag ausführen wollte.
Die Nachricht vom Eintreffen des Mörders sprach sich schnell herum – Schankwirte hören alles als Erste –, und es wurde berichtet, dass er nach einem Mann suchte, den er nie zuvor gesehen hatte und der an einem Ort mit vielen Wirtschaften, Herbergen und Tavernen arbeitete. Bei seiner Ankunft ging der Mörder in die erste Wirtschaft, an der er vorbeikam. Dort arbeiteten zwei Männer am Tresen. Er fragte sie, wo er Barney finden könnte. Der Legende nach lautete die Antwort: ›Nach welchem sucht Ihr denn?‹ Nicht nur in jener Wirtschaft hießen beide Männer Barney, sondern auch in jeder anderen Taverne am Ort. Jeder Mann, der Bier oder Schnaps hinter einem Tresen verkaufte, trug ausnahmslos diesen Namen. Schankwirte kümmern sich um ihresgleichen; sie arbeiten in einem Beruf, in dem sie viel zu hören bekommen und nur wenig sagen dürfen. Als sie daher von der misslichen Lage hörten, in die einer ihrer Genossen geraten war, benannten sie sich geschlossen nach diesem Mann um, sodass sie fortan noch anonymer und sicherer vor den Nachstellungen und Racheakten ruchloser Menschen und gedungener Mörder waren. Falls der Attentäter nicht jeden einzelnen Mann töten wollte, der in jener Stadt Alkohol ausschenkte, würde er nie denjenigen finden, den sein Auftraggeber tot sehen wollte. Also gab er auf und kehrte nie zurück, denn auch ein Mörder hält sich an bestimmte Normen – und braucht ab und zu ein Bier.«