Anborn hatte während der Geschichte mehrmals gekichert, doch nun wurde sein Blick wieder ernst, als er Rhapsody ansah.
»War dieser Mörder Achmed?«, fragte er ruhig.
Rhapsodys Gesicht wurde schlaff. Sie ließ die Muschel und die Hand des Marschalls los und wandte sich zum Fenster des Raumes.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie nach einem Moment des Schweigens, während sie Anborn den Rücken zugekehrt hielt. Ihr Umriss schien gegen die untergehende Sonne noch dünner und geisterhafter zu sein als nach ihrer schweren Prüfung. »Damals kannte ich ihn noch nicht. Ich bezweifle es aber. Soweit ich weiß, hat Achmed nur selten danebengeschossen oder seine Beute aus den Augen verloren.« Die letzten Worte drangen ihr etwas unbeholfen aus dem Mund. Sie schloss ihn abrupt, zerrte an dem Vorhang und ließ mehr verdämmerndes Licht ins Zimmer. Und er hätte keinerlei Bedenken gehabt, jeden einzelnen Barney in der Stadt zu töten, falls es nötig gewesen wäre. Achmed braucht sie nicht, er kann sich selbst ein Bier zapfen.
»Hast du je daran gedacht, dass deine Loyalität zu ihm unangebracht ist?«, fragte Anborn mit untypisch sanfter Stimme. »Versteh mich bitte nicht falsch, meine Liebe. Ich bin nicht in der Lage, einen Mann für Taten in seiner Vergangenheit zu verdammen. Es erscheint mir nur so, dass du vieles von dem, was du liebst, für jemanden aufs Spiel setzt, dessen gesamte Weltsicht allem, woran du angeblich glaubst, entgegengesetzt ist.«
Siebzig Herzschläge lang schwieg die Herrin der Cymrer.
»Ich habe immer geglaubt, du magst ihn«, sagte sie schließlich.
Anborn richtete sich auf und seufzte dann entmutigt.
»Das tue ich auch, aber das ändert nichts an meinen Sorgen um dich. Du wirst bemerkt haben, dass ich dich dasselbe im Hinblick auf meinen Neffen und auch auf mich selbst gefragt habe. Du bist eine Frau, die Dinge schätzt, um die sich niemand von uns schert. Indem du Gutes in uns siehst, das nicht wirklich existiert, bringst du dich in Gefahr. Und dein Kind.«
Rhapsody kehrte zu ihm zurück und setzte sich an seine Seite. »Ich wollte dir die Geschichte von Barney erzählen«, fuhr sie fort, als hätte sie nicht gehört, was er gesagt hatte. »Von meinem Barney – demjenigen, den ich in Ostend gekannt habe. Er war ein kleiner, alter Mann, und ihm gehörte ein Wirtshaus mit dem Namen Hut und Feder. Er hatte eine Frau namens Dee und ein großes Herz. Auch war er die erste Person, deren wahren Namen ich ausgesprochen habe – oder, genauer gesagt, habe ich ihn niedergeschrieben, nachdem ich die Notenschrift erlernt hatte. Ich habe ihm gesagt, er solle eines Tages einen Troubadour bitten, es für ihn zu spielen, falls einmal einer des Weges kommen sollte. Anscheinend ist einer gekommen. Er hat Barney das Lied seines eigenen Namens vorgespielt, auch wenn keiner von beiden wusste, was es war. Barney gefiel die Melodie, und so summte er sie täglich vor sich hin, während er Gläser spülte und Bier ausschenkte.« Ihre Augen wurden glänzender. »Das tut er immer noch, soweit ich weiß.« Sie senkte den Blick, als Anborn sie plötzlich scharf ansah.
»Sag endlich, was du mir sagen willst«, befahl der Marschall.
»Ich meine damit, dass vor all diesen Jahrhunderten im Dritten Zeitalter ein Mann gelernt hat, sich selbst seinen wahren Namen vorzusingen, Tag und Nacht, jeden Tag seines Lebens. Seine geliebte Frau wurde alt und starb; der Krieg kam auf die Insel und verließ sie wieder und nahm eine ganze Generation mit sich. Jahrhunderte des Wiederaufbaus vergingen, bis Gwylliams Vision des Untergangs enthüllt wurde, und als die Cymrer an diesen Ort hier auswanderten, ging Barney mit ihnen. Er hat das alles miterlebt, Anborn: den Aufbruch, die Reise, die Errichtung und Vernichtung des cymrischen Reiches, den Krieg, die Jahre des stillen Elends – und noch heute betreibt er eine Schankwirtschaft in einem kleinen Fischerort an der Westküste und sieht noch genauso aus wie der Mann, den ich vor zweitausend Jahren auf die Wange geküsst und dann verlassen habe. Das Lied seines Namens scheint ihn am Leben zu erhalten. Jedes Mal, wenn er die Melodie summt, erschafft sie ihn in gewisser Weise neu, und er wird wieder zu dem Mann, der er an jenem Tag war, als er sie gelernt hat.«
Sie berührte die Muschel in seiner Hand.
»Grunthor hat sie mir vor ein paar Jahren gegeben, als er zum ersten Mal hierher kam. Es war sehr aufmerksam von ihm; denn er glaubte, die Muschel könnte mir bei meinen Albträumen helfen, die ich seit meiner Kindheit habe. Er dachte, vielleicht würde mich der Klang des Meeres beruhigen. Und er hatte recht, auch wenn ich der Meinung bin, dass eher seine Freundlichkeit als das Rauschen der Wellen dafür verantwortlich war.« Ihr Lächeln wurde heller, obwohl der Blick ihrer Augen ernster wurde. »Seit jener Zeit habe ich sie bei mir getragen – als Erinnerung an das, was mir geholfen hat, alle Missgeschicke zu überleben. Das war weder meine Klugheit – falls ich überhaupt welche besitze – noch meine Stärke, so gering sie auch sein mag, sondern die Liebe all jener, die mir wichtig sind. Jetzt gebe ich sie dir. Ich habe das Lied deines wahren Namens hineingesungen, Anborn ap Gwylliam, Sohn von Anwyn.« Sie drückte seine Hand.
Der Marschall seufzte. »Ich brauche deinen Trost nicht«, sagte er so freundlich wie möglich. »Ich brauche nur Konzentration. Uns steht ein Krieg bevor. Das Letzte, was ich will, ist, von närrischem Trost abgelenkt zu werden.«
»Ich weiß«, sagte Rhapsody. »Ich gebe dir diese Muschel nicht zum Trost, sondern zur Heilung.« Ihre Stimme wurde leiser; es war, als bereiteten die Worte ihr Schmerzen. »Es ist meine Schuld, dass du gelähmt wurdest, denn du hast mich aufgefangen, als Anwyn mich in der Schlacht nach dem cymrischen Konzil aus großer Höhe fallen gelassen hat.« Sie brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen, als sie sah, dass er etwas entgegnen wollte. »Wegen mir hast du die Freiheit verloren, die du früher hattest – diese Freiheit, die du deinen eigenen Worten zufolge über alles geschätzt hast. Ich habe oft versucht, deine Verletzungen zu heilen und dich wieder gesund zu machen, aber meine Kenntnisse und Fähigkeiten sind dazu nicht stark genug.«
Der Marschall drückte ihre Hand. »Deine Fähigkeiten haben ausgereicht, mich vor dem Tod zu bewahren und mir meine Gesundheit zurückzugeben – wenn auch nicht meine gesamte Lebenskraft …«
»Das reicht nicht«, unterbrach Rhapsody ihn. »Wenn du die Streitkräfte des Mittleren Kontinents wieder in den Krieg führen willst, der vermutlich von bösartiger Gier und Eroberungslust bestimmt wird, oder vielleicht auch von dunkleren, dämonischen Gründen, dann musst du so gesund und wendig wie möglich sein. Seit Meridions Geburt und meiner Zeit in Elynsynos’ Nest habe ich gelernt, dass ich die falsche Richtung eingeschlagen hatte. Ich konnte dich heilen und vor dem Tod bewahren, Anborn, aber ich kann dich nicht wieder zu dem Mann machen, der du früher einmal warst, weil du das nur selbst tun kannst. Nur du weißt, wie du einst warst, wie du jetzt bist und was du gesehen und getan hast. Nur du kannst dich an alles erinnern, was während deines sehr langen Lebens geschehen ist. Ob gut oder schlecht, diese Erinnerungen sind es, die dich ausmachen, und ich glaube, nur du vermagst sie so zu erfassen, dass sie dich wieder zu dem machen können, was du einmal warst.«
Die großen Hände, die ihre kleinen umfassten, zitterten leicht. Anborn schaute auf sie nieder.
»Ich weiß nicht, ob ich wieder zu diesem Mann werden will«, sagte er tonlos. »Ich habe in meinem Leben viele schreckliche Dinge getan, Rhapsody. Um manche davon weißt du, aber viele sind dir nicht bekannt. Vielleicht werde ich sie oder noch Schlimmeres im Verlauf des kommenden Krieges erneut tun. Wenn diese Lähmung der Preis für die Reinigung meiner Seele war, dann ist es richtig so.«
Rhapsody atmete tief ein. »Nein, so ist es nicht«, sagte sie, wobei in ihrer Stimme die Wahrheit der Benennerin mitschwang. »Du kannst dich von nichts reinigen, was dir zugestoßen ist, als wäre es nur eine Unreinheit im Stahl, die im Feuer der Schmiede weggeschmolzen wird. Alles Vergangene hat dich zu dem gemacht, was du bist – wie Noten einer Sinfonie. Gesund oder gelähmt, du bist, was du bist. Ryle hira, wie die Lirin sagen. Das Leben ist so, wie es ist. Vergib dir selbst.« Sie ließ seine Hände los und drückte die Muschel gegen seinen Brustkorb. »Versuch wenigstens so gesund wie möglich zu sein – wenn schon nicht für dich selbst, dann für die Männer, die du anführst. Und für mich.«