Das starre Gesicht des Marschalls entspannte sich ein wenig.
»Du bist erfüllt von Selbstbewunderung und scheinst von meiner Wertschätzung für dich nur allzu überzeugt zu sein«, meinte er scherzend. »Also gut. Was muss ich tun?«
»Halte dir die Muschel ans Ohr, vielleicht bevor du schlafen gehst, oder wenn du aufwachst. Lausche der Musik in ihr. Es kann eine Weile dauern, bis du den Gesang der rauschenden Wellen hörst. Summe ihn mit, oder singe, falls du die Worte verstehen kannst, obwohl das für einen nicht ausgebildeten Sänger sehr schwierig ist. Versuche es bitte. Versuche dich daran zu erinnern, wer du warst, und vermische das mit dem, der du jetzt bist. Ich weiß nicht, ob es einen Unterschied machen wird, aber wir werden bald voneinander getrennt sein – für eine sehr lange Zeit, wenn nicht sogar für immer. Ich bitte dich, Anborn, tu es für mich. Und wenn schon nicht für mich, dann tu es wenigstens, um dem Kampf um das Überleben des Mittleren Kontinents und vielleicht der ganzen Welt einen weiteren gesunden Körper hinzuzufügen.«
Ihre Blicke trafen sich, und für einen Moment erinnerten sie sich an ein anderes Gespräch, das sie vor vielen Jahren bei dem Treffen geführt hatten, auf dem sie ihn gefragt hatte, ob er ihr Gemahl werden wolle.
Wir sollten uns nicht so geziert unterhalten, General. Wir beide wissen, dass ein Krieg bevorsteht; er kommt jeden Augenblick näher. Und während du den Krieg aus eigener Anschauung kennst, habe ich unseren Gegner gesehen – oder wenigstens einen von ihnen. Wir brauchen alles, was wir haben – alles –, bloß um sein Erwachen zu überleben, vom Besiegen erst gar nicht zu reden. Ich will weder das Blut noch die Zeit der Lirin verschwenden, um etwa so Dummes wie eine Kriegserklärung wegen meiner Verlobung abzuwenden. Eine Vernunftheirat ist ein geringer Preis für die Sicherheit und den Frieden Tyrians. Wir brauchen jede lebende Seele, wenn die Zeit gekommen ist.
»Ich werde es tun«, versprach der Marschall schließlich. »Auch wenn ich die Ohren der Männer, die in meiner Nähe lagern, mit dem Gesang meiner schrecklichen Stimme zerfetzen werde, so werde ich doch für dich den Versuch unternehmen, Rhapsody. Dabei werde ich mir vorstellen, wie du meinem Großneffen etwas vorsingst, und vielleicht wird mir dies das Gefühl der Lächerlichkeit nehmen. Aber im Gegenzug musst du mir versprechen, dich nicht mehr für meine Lähmung verantwortlich zu fühlen. Dass ich dich rette, war bereits in einer Prophezeiung vorhergesagt, Jahrhunderte bevor ich dich zum ersten Mal gesehen habe, und wenn ich etwas von meiner verfluchten Mutter gelernt habe – mögen die Maden ihre Augen fressen –, dann ist es die Tatsache, dass man nicht gegen sein Schicksal ankämpfen kann.« Seine blauen Augen blinzelten in der dichter werdenden Dunkelheit. »Wenn ich aber das Schicksal kommen sehe, werde ich ihm trotzdem einen guten Kampf liefern.«
Ein Klopfen ertönte. Die Tür wurde geöffnet, und Ashes Schatten erschien im Rahmen.
»Die Vorbereitungen laufen und werden bald abgeschlossen sein, Aria«, sagte er. »Der Quartiermeister wird die Pferde in einer Viertelstunde zur Abreise bereitgemacht haben.« Er sah Anborn an und streckte dann seiner Frau die Hand entgegen.
Rhapsody stand auf, ging zu ihm und ergriff seine Hand. »Wer hat das Kind?«
»Grunthor.«
»Glaubst du, das ist klug? Hast du ihm vorher etwas zu essen gegeben?«
»Dem Kind?«
»Das habe ich damit nicht gemeint.« Rhapsody drehte sich ein letztes Mal um und lächelte den Marschall an. »Ich wünsche dir Glück in all deinen Unternehmungen«, sagte sie. »Und erinnere dich an dein Versprechen.«
Ungeduldig winkte Anborn ihr zu.
»Geh«, sagte er barsch.
Rhapsody sah ihn noch eine Weile an, dann ließ sie Ashes Hand los und stellte sich vor den Marschall. Sie verneigte sich leicht und drückte ihre Lippen auf die seinen, wobei sie ihm die Hände auf die Schultern legte. Sie ließ sich Zeit und atmete seinen Atem ein. Dann kehrte sie zu ihrem erstaunten Gemahl zurück und verließ das Zimmer, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Anborn wartete, bis sich die schwere Tür fest hinter ihnen geschlossen hatte und ihre Schritte im Korridor verhallt waren. Als er schließlich keinen Laut mehr hörte, nahm er seine Brille auf und kehrte an seine Arbeit zurück.
»Auf Wiedersehen«, sagte er leise zu der Karte auf dem Tisch vor ihm.
13
»Ich will nicht einmal fragen, was da eben geschehen ist«, murmelte Ashe, während sie den Korridor mit derselben beherrschten Eile entlanggingen, die sie seit dem Treffen zeigten. »Das war kein Anblick, den ich angesichts unserer bevorstehenden kriegsbedingten Trennung unbedingt in Erinnerung behalten will. Bitte sorge dafür, dass ich es nicht mitbekomme, wenn du dasselbe mit Achmed machst. Dann könnte ich wochenlang keinen Bissen mehr herunterwürgen.«
Rhapsody war so sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, dass sie ihn nicht gehört hatte.
»Weißt du, wer Anborn einen Abschiedskuss verweigert hat und danach nie wieder zurückgekehrt ist?«, fragte sie, als sie schließlich die Tür zu ihren Gemächern erreicht hatten.
Ashe sah sie verständnislos an, ergriff die Klinke und öffnete die Tür.
»Ich habe keine Ahnung«, meinte er und bedeutete ihr, vor ihm einzutreten. »Anborn lebt schon sehr lange, und es waren mitunter schreckliche Zeiten für ihn. Ich vermute, er hat viele Menschen verloren, die ihm am Herzen lagen, auch wenn mir kein besonderer einfällt außer vielleicht Dorndreher, aber ich glaube nicht, dass sich die beiden oft geküsst haben.«
Rhapsody ging zu dem Kerzenleuchter auf dem Tisch neben dem Bett, berührte die Dochte und entzündete sie auf diese Weise.
»Seine Frau vielleicht?«
Ihr Gemahl schloss die Tür. »Das möchte ich bezweifeln. Estelle war eine ziemlich schreckliche Frau, und als sie vor etwa einem Jahrzehnt starb, hat mein Vater mir gesagt, Anborn sei eher erleichtert als alles andere gewesen. Ich hielt mich damals versteckt und weiß daher nicht genau, was zu jener Zeit in Anborns Leben vor sich gegangen ist. Er hat eine allgemein bekannte Schwäche für Tavernenmädchen und Kellnerinnen; ich halte es daher nicht für unmöglich, dass er eine oder mehrere von ihnen verloren hat, für die er sehr viel empfunden hat.«
Rhapsody schüttelte den Kopf und schmiegte sich in Ashes Arme.
»Ich glaube nicht, dass das die Antwort ist, obwohl du vermutlich recht mit deiner Meinung hast, Estelle sei nicht diese Person gewesen.« Sie dachte zurück an eine vereiste Lichtung am Waldrand von Tyrian in der Nacht, als Constantin ihr anlässlich des Konzils seine Aufwartung gemacht hatte. Damals war der Marschall auf ihren Ruf der Blutsverwandten im Wind hin erschienen und hatte sie und den damaligen Gladiator verirrt und beinahe erfroren vorgefunden. Anborn hatte sie beide gerettet, hatte die frierende und fast nackte Rhapsody zu einer verborgenen Hütte gebracht, die ihm als Unterschlupf diente, und hatte ihr ein weiches, farngrünes Hemd gegeben, das lange Ärmel und Stickereien am Handgelenk gehabt hatte.
Es hat nicht den Anschein, dass es dir besonders gut passt. Wem gehört es?
Es hat meiner Frau gehört. Sie würde nichts dagegen haben, dass du es trägst. Sie ist schon seit elf Jahren tot. Übrigens steht es dir viel besser.
Es tut mir sehr leid.
Nicht nötig. Wir haben uns nicht sehr gern gehabt. Wir haben nicht zusammengelebt, und ich habe sie nur selten gesehen.