Rhapsody entspannte sich unter der Wärme seines Lächelns, auch wenn ihr klar war, dass die unausgesprochene Möglichkeit eines tödlichen Endes für einen von ihnen oder gar für beide bestand.
»Abgemacht«, sagte sie.
Ein höfliches Klopfen kam von der Zimmertür.
»Fertig, Herr«, ertönte die gedämpfte Stimme des Quartiermeisters.
Ashe und Rhapsody erhoben sich rasch vom Bett und eilten gleichzeitig in ihre eigenen Ankleidezimmer, aus denen sie bereits einen Augenblick später wieder hervorkamen und etwas in den Händen hielten.
Ashe streckte seine Hände zuerst aus, in denen er einen zerknitterten Umhang hielt, der außen grau war und ein blaues Innenfutter hatte. Ein Schatten aus Dunst leckte zwischen den Falten hervor – wie Nebel, der am Morgen über einem See liegt.
Rhapsody lächelte. Das war der Nebelumhang, der Ashe während all der Jahre, in denen er sich hatte verstecken müssen, vor Entdeckung bewahrt hatte. Er war unsichtbar durch die Welt gestreift, und selbst in seiner nächsten Umgebung hatte ihn damals niemand bemerkt. In dieser Gewandung hatte sie ihn zum ersten Mal gesehen, zumindest auf dieser Seite der Zeit, und zwar während eines verpfuschten Taschendiebstahls, der einen großen Tumult auf der Straße verursacht hatte. Die Erinnerung an das folgende Handgemenge war sowohl komisch als auch bitter. Der Dunst war auf Ashes Kommando in den Mantel gefahren, denn als Träger des Schwertes Kirsdarke beherrschte er das Element des Wassers. Er hatte den Umhang so lange getragen, dass der Dunst an ihm haften geblieben war und das Gewebe durchtränkt hatte. So war sein Träger allen neugierigen Blicken entzogen gewesen.
»Nimm das hier mit, Aria«, sagte er lebhaft. »Es ist groß genug, um dich und das Kind zu verbergen. Falls die Prophezeiung stimmt und es Augen gibt, die Meridion beobachten, dann sollte sie dieser Umhang blind machen, zumindest so lange, wie er sich unter dem Mantel befindet. Versuche, ihn wenigstens bis Canrif und vielleicht noch darüber hinaus zwischen den Falten zu verstecken.«
Rhapsody nickte und nahm den Mantel entgegen. »Das werde ich tun. Vielen Dank, Sam.« Auch sie streckte nun eine zur Faust geballte Hand aus und hielt sie über Ashes Hände. Sie öffnete ihre Hand und ließ in seine Handfläche eine Perle fallen, die schillerte und glänzte wie der gleißende Mond. Darin enthalten war die Erinnerung an ihre erste Hochzeit, eine selbst erdachte und ohne Zeugen abgehaltene Zeremonie in der Grotte von Elysian, ihrem versteckten unterirdischen Heim im Bolgland. Es war eine Erinnerung, die nur sie beide miteinander teilten, und sie bezog sich auf einen Ort, an dem sie sich immer sicher gefühlt hatten. »Und du behältst diese Perle. Sie soll dich an glückliche Zeiten erinnern und an die noch besseren Zeiten, die anbrechen werden, wenn das hier vorbei ist.«
Er umschloss die Perle mit seinen Fingern und nickte.
»Du weißt, dass die Träume zurückkehren werden«, sagte er.
»Ja.«
Ashe betrachtete sie traurig. In jener Nacht in ihrer Jungend, als sie sich auf der anderen Seite der Zeit zum ersten Mal begegnet waren, hatte sie ihm von ihren beunruhigenden Träumen erzählt. Als sie sich auf dieser Seite der Zeit wieder getroffen hatten, waren jene prophetischen, hellsichtigen Träume zu nächtlichen Schrecken geworden, unter denen sie sich im Schlaf wild hin und her geworfen hatte, doch manchmal hatten sie den Schlüssel zu zukünftigen oder vergangenen Ereignissen gebildet. Ashes Drachennatur besaß die Möglichkeit, diese Albträume fortzuscheuchen, die sie früher im Schlaf so gequält hatten. Mit den Jahren hatte sie schließlich Frieden in seinen Armen gefunden. »Wer wird dir jetzt die Albträume vertreiben, Aria?«, fragte er leise.
»Sie sind das kleinste Problem, vor allem da sie manchmal die Zukunft voraussagen«, meinte sie. »Ich glaube, die Antwort lautet, dass du es weiterhin sein wirst, Sam. In gewisser Weise könnte das Opfer, das du bringst – das wir alle bringen –, die einzige Möglichkeit sein, uns vor noch schlimmeren Albträumen zu bewahren, die beim Erwachen nicht mehr schwinden werden.«
Sanft legte sie ihm die Hand auf die Wange. »Ich werde im Traum zu dir kommen, wenn ich kann«, sagte sie leise.
»Du bist immer bei mir, Aria.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich meinte damit, dass ich versuchen werde, auf eine Weise zu dir zu kommen, die mehr als ein Traum, aber weniger als körperliche Gegenwart ist. Als ich einige Monate lang allein mit Elynsynos war und die Texte über die alten Weisheiten studieren konnte, habe ich viel mehr davon begriffen, wie die Magie einer Benennerin wirkt. Eines, was ich tun kann, ist dich von Zeit zu Zeit zu besuchen, und zwar so, dass es uns beiden bewusst ist. Es wird mir besonders dann möglich sein, wenn Achmed sein Projekt beendet hat.«
Ashe küsste sie und öffnete dann die Tür.
»Wie dem auch sei, du bist immer bei mir.«
Plötzlich fuhren sie beide zusammen, als hätte ein Pfeil sie getroffen.
»Meridion weint«, sagten sie gleichzeitig zueinander.
Ashe trat zur Seite, damit Rhapsody als Erste durch die Tür eilen konnte. Während sie zusammen den Korridor entlangliefen, schaute er hinunter auf seine Frau.
»Du kannst das unmöglich gehört haben«, sagte er sanft. »Du scheinst einen eigenen Drachensinn ausgebildet zu haben. Offenbar habe ich auf dich abgefärbt.«
Rhapsody schnaubte und verdoppelte ihre Geschwindigkeit. Sie war vier Schritte vor ihm an der Treppe.
»Wohl kaum. Jede neue Mutter hat etwas von einem Drachen an sich.«
Ashe sah ihr zu, wie sie die Treppe hinunterhastete und dabei je zwei Stufen auf einmal nahm.
»Hm. Das würde die wilden Stimmungsschwankungen erklären.«
Der Quartiermeister hatte vier Pferde vorbereitet: zwei leichte zum Reiten und zwei stämmigere Kriegspferde. Eines der beiden letzteren war von enormer Größe und trug nur sehr wenig Gepäck. Grunthor untersuchte es und nickte zustimmend. Das andere der beiden schweren Pferde und eines der leichteren trugen den größten Teil der Ausrüstung und Vorräte für die lange Reise.
Das zweite leichte Pferd war mit einem besonders langen Sattel ausgerüstet.
»Ich glaube, du solltest wenigstens zu Beginn mit Achmed reiten«, sagte Ashe ernst zu Rhapsody. »Deine Prüfung im Gwynwald, Meridions Geburt und die lange Rückreise hierher haben dich sehr mitgenommen, Aria.
Ich bin mir nicht sicher, ob du in deinem augenblicklichen Gesundheitszustand die Strapazen eines scharfen Ritts ertragen kannst, vor allem weil du auch noch das in den Nebelmantel gehüllte Kind festhalten musst. Deshalb gebietet es die Klugheit, mit Achmed einen Sattel zu teilen – wenigstens für den ersten Teil der Reise. Ich werde beruhigter sein, wenn ich weiß, dass du nicht vom Pferd fallen kannst.«
Rhapsody lächelte und gab ihm einen Kuss.
»Du wirst immer in meinen Gedanken sein, und ich weiß, dass ich immer in deinen sein werde«, sagte sie. »Jede Nacht, bevor ich schlafen gehe, werde ich mich bemühen, dich in deinen Träumen zu besuchen. Erinnere dich an die Lieder, die ich dir immer vorsinge, wenn wir zusammen sind. Ich werde sie dir und Meridion auch vorsingen, wenn wir getrennt sind. Behalte dieses Bild in deinen Gedanken, und wir werden nie weit von dir entfernt sein.«
Als Erwiderung lächelte Ashe traurig.
»Jetzt kann ich deine Wimpern und deine Herzschläge zählen. Ich weiß, wie du atmest und wie du dort, wo du stehst, die Luftzüge beeinflusst und sie veränderst, wenn du dich bewegst. Sobald du mehr als fünf Meilen von mir entfernt bist, ist es, als wärest du für mich auf ewig verloren«, sagte er. »Bring dich und unseren Sohn in Sicherheit, meine Liebste. Ich kann nur dann geistig gesund bleiben, wenn ich weiß, dass du das tust.«
Rhapsody umarmte ihn und wusste, dass er die Wahrheit sprach.