Die schlimmste Erinnerung war die letzte, als seine Mutter und deren Schwester, seine Tante, an die er sich kaum entsann, in genau eine solche Kutsche geklettert waren, weil sie in die Stadt fahren und Melisande Schuhe kaufen wollten, in denen sie laufen lernen sollte. Sie hatten gelacht; Mutters schwarze Augen, denen die von Melly so ähnlich sahen, hatten geglitzert, und sie hatte sein Gesicht zwischen ihre Hände genommen, ihn auf Wange und Stirn geküsst und ihm Worte ins Ohr geflüstert, an die er sich noch genauso gut erinnern konnte wie an den Klang ihrer Stimme.
Sei ein guter Junge. Hilf deinem Vater. Denk daran, dass ich dich liebe.
Er hatte sich bemüht, diese Bitten zu erfüllen. Die meiste Zeit über war das nicht schwierig gewesen.
»Das weiß ich«, sagte er mechanisch zu dem Kammerherrn.
Melisande, die sich für eine ausgezeichnete Pferdekennerin hielt, hatte bereits zur stillen Erheiterung der Kutscher das Zaumzeug der Tiere untersucht und stand nun vor der Tür des Fahrzeugs.
»Es reicht«, sagte sie ungeduldig. »Es ist Zeit zum Aufbruch.«
Gwydion atmete tief aus, trat zur Kutschentür und legte Melisande eine Hand auf die Schulter.
»Hör auf Gerald«, ermahnte er sie ernst. »Und geh bloß kein dummes Risiko ein.« Er sah, wie sich ihre Augen verengten, und erinnerte sich plötzlich daran, wie es war, wenn man wegen seines Alters unterschätzt wurde. Rasch griff er in den Schaft seines Stiefels und zog daraus ein kleines Messer in einer Scheide hervor. »Hier«, sagte er freundlicher. »Du kannst besser damit umgehen als ich. Es hat Vater gehört.«
Melisandes Ausdruck der Verärgerung wich dem der Freude.
»Vielen Dank«, sagte sie eifrig, nahm das Messer entgegen und drehte es in ihren Händen hin und her. Rasch umarmte sie ihren Bruder und griff dann nach der Wagentür. Gwydion kam ihr zuvor, öffnete die Tür für sie und klappte das Trittbrett aus. Sie kletterte hinauf, beugte sich zurück und küsste ihn auf die Wange.
»Mach keine Dummheiten«, sagte sie, während ihre schwarzen Augen tanzten. »Und hab nicht zu viel Spaß ohne mich.«
»Das kann ich nur zurückgeben«, erwiderte Gwydion. »Beides.« Melisande grinste. Die goldenen Locken unter ihrer Kapuze hüpften auf und ab. Dann trat sie in die Dunkelheit des Wageninneren. Gerald kletterte ihr nach.
»Macht Euch keine Sorgen, Herr. Ich kümmere mich um ihre Sicherheit.«
Melisande lehnte sich aus dem Kutschenfenster. »Ich kann mich selbst um meine Sicherheit kümmern. Und du solltest dasselbe tun, Bruder.«
Gwydion nickte, schloss die Tür und fühlte sich, als wäre das Ende der Welt gekommen.
Wieder einmal.
Er stand in der Finsternis des Hofes und sah hinter der Kutsche her, bis sie von den dunklen Zweigen der Bäume und von der Nacht verschluckt wurde.
Melisande war noch nie in dem Wald nordwestlich ihres Zuhauses gewesen.
Einmal hatte sie Tyrian besucht, und zwar zur Hochzeit von Rhapsody und Ashe, und einmal war ihr erlaubt worden, zusammen mit ihrem Vater in die Provinz Canderre nordöstlich von Navarne zu reisen und dort entfernte Verwandte zu besuchen. Sie hatte ihn auch gebeten, sie nach Yarim im Osten mitzunehmen, weil das exotische Wüstenklima ihre Phantasie beflügelt hatte und sie den Ort sehen wollte, von dem die Familie ihrer Mutter und damit auch ihre eigenen schwarzen Augen stammten, doch Stephen Navarne hatte es immer abgelehnt, weil die Reise zu weit und die Zeiten zu gefährlich waren. Eines Tages, wenn du älter bist und die Welt besser geworden ist, werden wir dorthin gehen, Melly, du und ich, hatte er gesagt. Eine der traurigsten Lektionen in Melisandes jungem Leben war das Wissen, dass sie zwar eines Tages vielleicht wirklich Yarim sehen würde, doch dann wäre nur die eine Voraussetzung aus Vaters Versprechen erfüllt: nämlich der, dass sie dann älter geworden war.
Gelegentlich war sie auch nach Südwesten gereist, besonders zur Küstenprovinz Avonderre, wo ihre Familie bisweilen an den religiösen Feiern in der großen Strandbasilika von Abbat Mythlinis teilnahm, die dem Element des Wassers geweiht war. Dieser Ort faszinierte und beängstigte sie zugleich.
In der Dunkelheit lehnte sich Melisande gegen den weichen Stoff des Sitzes und lauschte eine Weile Gerald Owens Schnarchen. Dann schloss sie die Augen und dachte über die Basilika nach. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie das Bauwerk gesehen hatte. Es war am Benennungstag irgendeines Kindes gewesen, das ihrem Gedächtnis entfallen war, und sie hatte Angst gehabt, nach drinnen zu gehen. Es war eine ihrer frühesten Erinnerungen; damals war sie nicht älter als vier Jahre gewesen. Die Basilika stand am Ufer und glich einem der großen, zerschellten Schiffe der Ersten Cymrischen Flotte. In solchen Schiffen waren ihre Vorfahren zu diesem Kontinent aufgebrochen, als sie vor dem drohenden Untergang ihrer Heimat, der Insel Serendair, auf der anderen Seite der Welt geflohen waren. Aufgrund ihrer Jugend hatte sie damals nicht begriffen, dass es sich bei der Basilika um ein Bauwerk handelte. Sie hatte geglaubt, sie beträte das gewaltige Wrack eines wirklichen Schiffes, das auf den Strand aufgelaufen war, und diese Vorstellung hatte sie sehr verwirrt.
Im Innern war sie sich noch sicherer gewesen, dass sie sich nicht geirrt hatte. Die gewaltigen Eingangstüren, die aus Planken von unterschiedlicher Länge mit Einkerbungen am oberen Ende bestanden, schienen ein riesiges Loch zu bilden, das in den Kiel des Schiffes gerissen worden war, und der Turm, der sich darüber in einem verrückten Winkel erhob, hätte der Mast sein können. Große zerbrochene Stämme – die Knochen von Schiffen, die auf ihrer Reise untergegangen waren – waren in die dunklen Steinwände eingelassen und verliehen dem Inneren eine Ähnlichkeit mit dem Skelett eines ungeheuren, auf dem Rücken liegenden Tieres. Seine Wirbelsäule war der Mittelgang, und die Stämme waren die uralten Rippen, die zerbrochen in die Dunkelheit ragten.
Wenn das Hochschauen sie schon geängstigt hatte, dann war der Blick zu den Seiten sogar noch schlimmer gewesen. Eine Reihe dicker, durchscheinender Glasblöcke war etwa in Schulterhöhe in die Wände eingelassen. Dahinter war die bewegte See undeutlich sichtbar, die das Innere der Basilika und die Gesichter der darin Versammelten in ein grün-blaues Glühen badete.
Statt die Macht des All-Gottes zu spüren oder die Feier des neugeborenen Kindes zu genießen, war sie in Panik geraten und hatte geschrien, bis ihr; wütender Vater sie aus der Basilika entfernt hatte.
Nun war sie auf dem Weg zum Kreis – zu einem Ort, den ihr Vater hoch geachtet, aber als zu unsicher für sie angesehen hatte. Außerdem hatte sie den Auftrag erhalten, zum Nest einer Bestie weiterzureisen, die zu ihrer Zeit der Mutter-Drache des gesamten Kontinents gewesen war. Die Geschichtsbücher waren voller entsetzlicher Geschichten über dieses Wesen, angefangen von der Preisgabe ihrer drei Töchter bis zu jener Raserei, welche die Westhälfte des Mittleren Kontinents in Brand gesetzt hatte. Rhapsody hatte diese Geschichten als Lügen bezeichnet. Sie hatte die Drachin geliebt und war sogar während ihrer Schwangerschaft bei Elynsynos gewesen und hatte dabei alles zu erfahren versucht, was es über die Geburt und Pflege eines Kindes mit Drachenblut zu wissen gab. Sie hatte der Drachin vertraut, und Melisande traute ihrer Adoptivgroßmutter bedingungslos, aber sie fragte sich trotzdem, ob nicht ein Körnchen Wahrheit in den alten Geschichten verborgen lag.
Welche anderen Eigenschaften Melisande auch immer haben mochte, sie war vor allem gesegnet mit einem furchtlosen Geist und einer neugierigen Natur. Als jüngeres Kind eines Adelsgeschlechts mit nur geringen Aussichten, jemals den Titel ihres Vaters übernehmen zu können, der ihrem Bruder zustand, war ihr erlaubt worden, zu erforschen, worauf immer sie Lust hatte, und sich mit Dingen und Fähigkeiten abzugeben, die normalerweise nur den männlichen Nachkommen zustanden, sowie alles auf der Welt zu hinterfragen. Als sie gebeten worden war, die Mission zu übernehmen, auf der sie sich nun befand, hatte sie gewusst, dass sie eigentlich sehr nervös sein sollte.