Stattdessen war sie nur aufgeregt.
Eingehüllt ihn leichte Träume über die Wasser-Basilika und das Drachennest im verschwundenen See, döste sie dahin, bis der Angriff erfolgte und der erste Pfeil den Wagen traf.
Gerald Owen war von dem Einschlag entsetzt.
»Kutscher … Kutscher.«
»Wir werden angegriffen«, ertönte die gedämpfte Antwort. »Bleibt unten.«
Der alte Kammerherr riss die Augen weit auf. Melisande ergriff seine Hand, und gemeinsam legten sie sich unbeholfen auf den Boden des Wagens, der nun an Fahrt gewann. Die Karosserie erzitterte unter dem Donnern der Pferdehufe.
Auf dem Dach des Wagens hörten sie einen leisen Aufprall; dann wurde eine Armbrust abgefeuert.
»Der Lakai ist sehr geschickt mit seiner Waffe«, sagte Owen zu dem Mädchen und versuchte das Zittern aus seiner Stimme herauszuhalten. »Der Herr … hat dafür gesorgt. Er sollte jeden Angreifer zurückschlagen können.« Melisande nickte und lächelte ihm aufmunternd zu.
Es waren noch einige dumpfe Einschläge im hinteren Teil der Kutsche zu hören – genau dort, wo sie beide vorhin noch gesessen hatten. Melisande erbebte, als sie vier Pfeilspitzen aus dem Stoffpolster ragen sah.
Draußen vor dem Wagen hörten sie den Lärm von Verfolgung und Flucht, von gebrüllten Kommandos und Flüchen. Die Kutsche klapperte und schwankte hin und her, als die Steine und Fahrrinnen auf der Straße wegen der hohen Geschwindigkeit zu ernsten Hindernissen wurden.
»Keine … keine Angst, Herrin«, stammelte Gerald Owen.
»Ich habe keine Angst«, erwiderte das Mädchen. »Aber dein Fuß drückt auf meine Hand.«
»Ich bitte um Entschuldigung«, murmelte der Kammerherr und zog rasch seinen Fuß weg.
Geschosse zischten hinter dem Kutschenfenster vorbei. Von oben ertönte das Geräusch eines Pfeils, der sein Ziel gefunden hatte, und wie ein Echo wurde die Armbrust erneut abgefeuert. Die Kutsche schwang von einer Seite zur anderen, das Gepäck auf den Sitzen wurde zu Boden geworfen und landete auf den beiden ausgestreckt daliegenden Passagieren. Mit einem entsetzlichen Rumpeln und einem weiteren heftigen Schütteln machte die Kutsche einen Sprung nach vorn, als ob sie über etwas Großes auf der Straße gefahren wäre. Melisande erzitterte. Dem Klang und der Richtung nach schien es der Kutscher gewesen zu sein.
Ihre Vermutung wurde einen Moment später bestätigt, als der Wagen plötzlich ausbrach. Von oben waren Rufe zu hören, die von anderen hinter ihnen beantwortet wurden.
»Ich … ich glaube, die Tür ist nicht abgeschlossen«, sagte Melisande und beobachtete, wie sie auf und zu schlug.
Gerald Owen kämpfte sich auf die Knie, kroch hinüber zur Tür und verriegelte sie. Gerade als er sich wieder zurücklehnte, erschien ein Reiter an der linken Seite des Wagens. Er war nur undeutlich durch den Samtvorhang zu sehen und schlug mit der Hand gegen die Wagentür, dann griff er durch den Vorhang nach drinnen. Neben ihnen war das Donnern von Pferdehufen zu hören.
»Geht weg!«, rief Melisande. »Geht doch einfach weg! Lasst mich in Ruhe!«
»Psst, Herrin«, warnte Gerald Owen sie und griff nach ihr.
Die Hand kam erneut durch das Fenster, wurde diesmal weiter hineingestreckt. Es war eine raue, schwielige Hand mit Schwertblasen auf der Innenfläche. Sie fuhr wild umher und wurde dann wieder zurückgezogen.
Melisande wich ihr aus, als sie ihr auf Haaresbreite nahe kam. Sie kämpfte sich zur rechten Seite durch, während die schwankende Kutsche zwischen den einzelnen Straßenfurchen hin und her pendelte und die Pferde durch den Kampf aus dem Takt gerieten.
Der Arm stieß wieder in das Innere. Diesmal fuhr er über Melisandes Wange, packte dann ein Büschel ihrer Haare und zerrte sie zum Fenster zurück. Die Herrin von Navarne keuchte laut auf.
Gerald Owen sprang unbeholfen auf sie zu, packte ihre Beine und versuchte sie von der Tür fortzuzerren, doch die Hand ließ nicht los, sondern wickelte sich Melisandes Haare wie ein Seil um das Gelenk und riss wieder an ihnen.
In den schwarzen Augen machte Wut der Panik Platz. Melisande zog das Messer, das Gwydion ihr gegeben hatte, aus ihrem Stiefel und stach mit einem kunstvollen Bogen nach dem Arm. Sie traf ihn nicht.
Erneut wurde an ihrem Haar gezerrt, und ihr Kopf berührte die Fenstervorhänge.
Melisande kauerte nun mit dem Rücken zur Tür auf dem Boden und stach über ihrem Kopf blindlings zu. Sie traf ihr Ziel und zog das Messer über das Gelenk der Hand, die sie vor kurzem noch so fest gehalten hatte.
Der Arm wurde rasch zurückgezogen, und es ertönte ein Fluch in einer Sprache, die sie nicht kannte. Doch dann schoss der Arm erneut durch das Fenster. Er blutete leicht und tastete wild im Wageninneren herum.
Nun packten die Finger den Türgriff und drehten ihn.
Das Kind richtete sich auf. Es wartete, bis die Hand den Knauf ganz umschlossen hielt, holte tief Luft und vergrub ohne mit der Wimper zu zucken die Klinge bis zum Griff im Fleisch unterhalb der Knöchel.
Ein Schmerzensschrei, gefolgt von ersticktem Keuchen, fuhr durch die Luft vor dem Wagenfenster.
Melisande packte das Messer, das noch in der Hand steckte, und zog es am Griff nach unten. Dabei durchschnitt sie Fleisch und Sehnen und tauchte sich und Gerald Owen in pulsierendes Blut.
»Ich habe gesagt: Lasst mich in Ruhe!«, kreischte sie. »Ich schneide dir deine verdammten Finger ab, wenn du mich noch einmal anfasst!«
Die Kutsche erzitterte heftig, als Ross und Reiter gegen ihre Seite stießen. Dann sprang sie mit einem schrecklichen Geräusch in die Luft. Weiter hinten verblasste ein Schrei. Die Kutsche schlug wieder auf den Boden, schaukelte furchtbar hin und her und fiel schließlich auf die rechte Seite. Das ganze Gepäck wirbelte umher und landete auf den verblüfften Passagieren.
Benommen kämpfte sich Melisande auf die Beine. Von draußen hörte sie noch Kampflärm, doch ihre ganze Aufmerksamkeit war nun auf Gerald Owen gerichtet, der zusammengesunken auf dem Boden lag. Über einem Auge hatte er eine klaffende Wunde.
»Gerald …«
»Geht, mein Kind«, flüsterte der alte Kammerherr. »Flieht von hier … wenn Ihr könnt.«
Das Mädchen sah sich wild um, griff über den Kopf und drückte die Tür auf. Langsam kletterte es hinauf, benutzte dabei die Tür als Schutzschild und schaute sich um.
Ein graues Bergpferd stand quer auf der Waldstraße. Sein Zaumzeug hatte sich verheddert, und die Sattelriemen waren zerrissen, aber ansonsten war es unverletzt. Weiter hinten auf der Straße lag ein verkrümmter Körper, auf dem die Spuren der Kutschenräder deutlich zu sehen waren. Eine Hand lag leblos auf dem Boden ausgestreckt in einer Pfütze aus Blut. Der Leichnam des Kutschers lag ein wenig weiter hinten am Rand der Straße.
Noch weiter entfernt sah sie zwei Soldaten aus ihrer eigenen Eskorte im Kampf zu Pferde mit vier Männern in ähnlicher Uniform. Sie konnte die beiden Parteien nur an der Farbe ihrer Reittiere unterscheiden. Melisande zitterte; der Schock drohte sie zu überwältigen. Sie zog sich aus der umgekippten Kutsche und schaute hinter sich.
Der Lakai mit der Armbrust lag auf dem Boden vor dem Wagen unter der zerbrochenen Deichsel und jammerte unzusammenhängende Worte. Eines der Pferde war ebenfalls eingeklemmt, das andere tänzelte nervös in seinem Zaumzeug. Melisande erstarrte. Sie sah sich um, bemerkte niemanden in der Nähe und kroch über die umgeworfene Kutsche auf den Lakai zu.
Sie versuchte die Deichsel von ihm zu heben, aber sie war zu schwer. Er war ganz grau im Gesicht und von Schweiß überzogen, doch es gelang ihm, sie anzusehen.
»Flieht, Herrin«, sagte er. Dann erbebte er und wurde bewusstlos.
Ihr Sinn fürs Praktische gewann die Oberhand. Melisande überlegte, ob sie das Bergpferd nehmen sollte, verwarf den Gedanken aber wieder, als sie sich klarmachte, dass sie keine Ahnung von diesem Tier hatte und es für die Waldpfade ungeeignet war. Sie hoffte dass die Soldaten zu beschäftigt waren, um sie zu bemerken, und eilte hinüber zu den Rotschimmeln. Mit ihren kleinen, geschickten Fingern und einer Schnelligkeit, die sie sich durch lange Übung erworben hatte, zäumte sie das noch stehende Pferd los und stieg mit großer Leichtigkeit auf. Dieses Pferd war ihr nicht fremd; es erkannte sie ebenfalls und scheute nicht vor ihr zurück.