Doch das war vor Raths Zeit gewesen.
Lange vor seiner Geburt hatte es eine große Schlacht gegeben, in der vier der uranfänglichen Rassen gezwungenermaßen zu Verbündeten geworden waren, die sich zu dem Zweck zusammengetan hatten, die Welt vor der Vernichtung durch das erste Element, das zerstörende und verzehrende Feuer, zu bewahren. Für eine Weile hatte das Feuer eine natürliche Quelle gehabt, doch sehr früh im Leben der Welt waren einige Formen dieses Elements abtrünnig und bösartig geworden und hatten nicht mehr dem Schöpfer, sondern der Vernichtung, der Leere, der Antithese des Lebens gedient. Diese Wesen, die aus dem Feuer hervorgegangen waren und sich dem Ziel der Zerstörung hingegeben hatten, waren die flüchtigen Geister, die als F’dor bekannt waren. Dies war die Rasse, nach der er und seine Bruderjäger suchten.
Wie immer war Raths Atmen schwer geworden, als die Erinnerung ihm die Tiefe Kammer in der Erde zeigte, in der die F’dor von den vier Rassen des Bündnisses eingesperrt worden waren. Er war vor dieser Kammer geboren worden und zu Bewusstsein gelangt, das Kind zweier dhrakischer Eltern aus dem Stamm der Kith, die geschworen hatten, als Gefängniswärter der F’dor zu dienen und unablässig Wache vor der Tür der Tiefen Kammer zu stehen. Rath und die anderen seines Stammes waren noch rauer und gefühlloser als die übrigen seiner Art, was hauptsächlich der nackten Erde und den Korridoren in der Finsternis zuzuschreiben war, in denen sie gehaust hatten. Dhrakier zu sein bedeutete, in endlosen Schmerz hineingeboren zu werden, eine Verirrung der Natur zu sein, ein Kind des Windes, dass von jeder Luft und Freiheit abgeschnitten und durch das Versprechen früherer Generationen dazu verdammt war, gefangen in der Erde für alle Ewigkeit in endloser Dunkelheit Wache zu stehen.
Oder wenigstens wäre es so gewesen, wenn da nicht das Schlafende Kind gewesen wäre.
Raths Herzschlag wurde schneller, wie immer, wenn er schlief und von dem Tag träumte, als der niedergehende Stern auf die Erde geprallt war und die Kuppel der Tiefen Kammer gesprengt hatte. Es war eine Sintflut hereingebrochen, die jeder Beschreibung spottete. Die Tunnel und Korridore um das Gefängnis aus Lebendigem Stein herum, das die zerstörerischste Kraft enthielt, welche das Universum je hervorgebracht hatte, waren eingestürzt, und er hörte noch die Schmerzensschreie der Wächter sowie das Freudengeheul der Gefangenen, als diese ausbrachen und sich wie Wolfsmilch im Wind ausbreiteten. Damals war Rath noch jung gewesen, doch er erinnerte sich an den Geschmack von Salzwasser in seinem Mund, an das Brennen in der Nase, als das Meer hereindonnerte, und an das Entsetzen seiner ertrinkenden dhrakischen Gefährten – Entsetzen nicht über ihren drohenden Tod, sondern über das Wissen, dass die Welt, die sie beschützt hatten, nun nicht länger ein sicherer Ort war. Seine Mutter war damals unter den Toten gewesen. Er wurde noch immer vom Klang des Gelächters heimgesucht, das in seinen Ohren donnerte und in seinem Trommelfell brannte, doch noch schlimmer war die Erinnerung an die leiser werdenden Stimmen und die darauf folgende Stille, als sich die Dämonen in die Welt zerstreut hatten.
Als einer der überlebenden Wächter hatte er mit grimmiger Freude den Kampf aufgenommen, die verbliebenen Dämonen zurück in die Tiefe Kammer zu bringen, und er hatte dabei geholfen, sie rasch wieder zu versiegeln, sodass wenigstens einige der F’dor aufs Neue in der Erde gefangen waren. Es verschaffte ihm ein wenig Befriedigung, wenn er sich an das Wutgeheul und an die rauen Stimmen erinnerte, die wieder in ihrem Grab aus Lebendigem Stein verschwunden waren, doch er hatte genug vom Innern der Kammer gesehen, um zu wissen, dass es nur eine zeitweilige Einkerkerung sein würde. Jene F’dor, die hatten fliehen können, kannten neben der Vernichtung alles Lebendigen nur ein einziges Ziel.
All jene zu befreien, die den Ausbruch beim ersten Mal nicht geschafft hatten.
Der schlafende Dhrakier zuckte zusammen, als er sich in seinem Traum an den kurzen Blick erinnerte, den er auf den Blutdorn geworfen hatte, einen Baum, der jenen nicht unähnlich war, die an den Orten wuchsen, wo die Zeit ihren Ausgang genommen hatte. Doch dieser hier war verzerrt und bösartig gewesen, eine abscheuliche Verirrung, nicht so sehr Pflanze als vielmehr lebendes Wesen, mit Zweigen und Ästen voller sich windender Dornen, die ausschlugen wie die Tentakel eines Seeungeheuers auf der Jagd nach Beute. Dieser Baum hatte eine große Zahl seiner Gefährten aufgepfählt und verschlungen, bevor die Tiefe Kammer wieder versiegelt worden war. Wenn Rath sich an ihre Schreie erinnerte, krampfte sich seine Seele noch immer schmerzhaft zusammen.
Sein Vater war einer von ihnen gewesen.
Er wachte ruckartig auf, wie er es oft tat, und war in Schweiß gebadet, der rasch in der kühlen Brise trocknete. Der Traum war vorbei, genau wie sein Schlummer, doch er hatte Rath wieder einmal gezeigt, warum diese Jagd so wichtig war und warum die Nadeln, die in seinen Adern stachen, notwendig waren, um die Welt vor etwas zu beschützen, das sie wieder in Flammen setzen wollte, so wie sie zu Beginn der Schöpfung gewesen war. Es war eine düstere Erinnerung, doch sie war unerlässlich und versetzte ihn in die Lage, einen weiteren Tag hinter sich zu bringen und seine Suche nach jenen zerstörerischen Wesen fortzusetzen, die sich gestaltlos und flüchtig selbst vor dem Wind verbargen.
Und nach jedem lebenden Wesen, das jenen Dämonen bewusst oder unbewusst half.
Hrarfa, Fraax, Sistha, Hnaf, Ricken.
Wie üblich brachte sein Kirai nichts.
Rath versuchte es noch einmal.
Ysk.
Der salzige Geschmack kehrte in seinen Mund zurück; es war ein Widerhall gemeinsamen Blutes.
Rath erhob sich, schüttelte den Staub der Straße von seinen Kleidern und folgte abermals dem Klang.
Achmed hielt sein Reittier an und drehte das Gesicht von dem Rücken und den Schultern der Frau weg, die vor ihm im Sattel saß. Sie war in einen Umhang aus Nebel gehüllt, der einen fauligen Gestank verströmte.
»Hrekin«, sagte er säuerlich. »Rhapsody, bei allem, was heilig und unheilig ist, was ist das für ein ekliger Geruch?«
»Ich glaub, jetzt hast du’s zum ersten Mal bemerkt«, sagte Grunthor fröhlich. »Kinder gehören zu den Dingen, die besser schmecken als riechen.«
Rhapsody kicherte. »Falls du dir auch nur eine Armeslänge von ihm entfernt die Lippen lecken solltest, werde ich dich mit der Tagessternfanfare ausweiden. Glaub nicht, dass ich dazu nicht in der Lage wäre, du kinderfressender Tölpel«, erwiderte sie.
Achmed stieß verärgert die Luft aus. »Als ich dir angeboten habe, auf meinem Pferd mitzureiten, habe ich das nur getan, weil dein Mann Angst hatte, du könntest in deinem geschwächten Zustand aus dem Sattel fallen« ,sagte er und hielt seine Nase so weit wie möglich vom Ursprung des Gestanks entfernt. »Du hast mich nicht gewarnt, dass dein Kind ein feines Wurfgeschoss abgeben würde – besser noch als verfaulter Küchenabfall oder toter Fisch.«
»Willst du eine Pause einlegen, damit ich ihm die Windeln wechseln kann?«, fragte Rhapsody und öffnete die Falten ihres Umhangs. Achmed zuckte zur Seite und bedeckte seine empfindlichen Nebenhöhlen. Das kleine Kind schlummerte tief; die schwarzen Wimpern säumten das rosige Gesicht, das im Licht des Mondes kaum sichtbar war. »Ich weiß, dass er schlecht riecht, aber ich glaube, es ist das Beste, wenn man schlafende Kinder in Ruhe lässt.«