Die drei verstummten und tauschten einen raschen Blick aus. Rhapsodys Bemerkung hatte sie unbeabsichtigt auf ihre missliche Lage aufmerksam gemacht.
Vor langer Zeit war in einem Gedicht eine Prophezeiung von drei schlafenden Kindern ausgesprochen worden, die allesamt unterschiedslos »das Schlafende Kind« genannt wurden.
Das erste Kind in der Prophezeiung lag sicher in den Bergen von Achmeds Königreich. Es war das Erdenkind, bestand aus Lebendigem Stein und stammte aus der Zeit, als die Welt geboren worden war. Vielleicht war es sogar das Letzte seiner Art, das die Drachen aus der elementaren Erde geformt hatten und als ihren Nachkommen ansahen. Die Rippen des Kindes bestanden aus demselben Lebendigen Stein wie die Tiefe Kammer, in der die Dämonen gefangen gehalten wurden, und daher konnten sie als Schlüssel dienen, wenn das Kind in die Hände der F’dor fallen sollte.
Sie wussten, wo es sich befand.
Das zweite in der Prophezeiung erwähnte Kind war der Stern, der auf der anderen Seite der Welt ins Meer gestürzt war – derselbe Stern, der die Kammer zerschmettert hatte. Jener brennende Stern, der Tausende von Jahren unter den Meereswellen geschlafen hatte, war irgendwann wieder an die Oberfläche gekommen und hatte die Insel Serendair vor vierzehn Jahrhunderten in einer feurigen Sintflut überspült.
Doch trotz all der Vernichtung und der Leben, die dabei untergegangen waren, hatte das mittlere Kind weitaus weniger Schaden angerichtet, als es den anderen beiden möglich war.
Das dritte Schlafende Kind des Gedichts, das älteste, hatten sie während ihrer Reise entlang der Axis Mundi gesehen, der Wurzeln der Weltenbäume, die sie durch den Erdmittelpunkt geleitet hatten. Es war ein Wyrm von gewaltigen Ausmaßen, der beinahe ein Sechstel der Erdmasse einnahm und in den kalten, dunklen Wüsten unter dem Erdmantel schlief.
Und auf den Tag wartete, an dem die F’dor seinen Namen riefen und ihn weckten.
Worauf er die Erde verschlingen würde.
»Du musst die Windeln sofort wechseln«, sagte Achmed, während die Pferde auf der Stelle tänzelten. »Der Gestank brennt mir die Haut von der Innenseite meiner Augenlider.«
In der Ferne erregte eine rasche Bewegung seine Aufmerksamkeit. Wenn er sich nicht abgewandt hätte, um dem Gestank des Kindes zu entgehen, wäre sie ihm nie aufgefallen. Da war es wieder. Es war ein versteckter Hinweis darauf, dass sie zu Pferd verfolgt wurden.
Auch Grunthor hatte es gesehen. Er schnalzte den beiden Tieren zu, die als Packpferde dienten, und trottete mit ihnen weiter nach Osten.
Mit einer Schnelligkeit, die von jahrelanger Erfahrung herrührte, sprang Achmed still vom Rücken seines Pferdes. Überrascht schwankte Rhapsody im Sattel.
»Halt nicht an«, sagte er leise zu Grunthor. »Ich kümmere mich um sie.« Er wartete, bis die Pferde weitergetrabt waren, und suchte dann in einem blattlosen Busch am Wegesrand Unterschlupf.
Kurz darauf spürte er im Boden den Klang und die Schwingungen von herannahenden Hufen. Einen Moment später erschien eine Hand voll Soldaten in Ashes Uniformen, die rasch und leise den anderen Pferden vor ihnen folgten, aber keine Anstalten machten, diese einzuholen.
Die Art, wie sie im Sattel saßen, erregte Achmeds Aufmerksamkeit. Er hatte zugesehen, wie Anborn die cymrischen Krieger ausgebildet hatte, und wusste, dass seine Schüler nach vorn gebeugt auf ihren Pferden saßen, damit sie nicht leicht abgeworfen werden konnten und ihre Eingeweide geschützt waren. Aber die Soldaten, die nun die Straße hinabritten, saßen hoch aufgerichtet im Sattel und befanden sich damit im vollkommenen Gegensatz zu den vom Bündnis ausgebildeten Reitern.
Außerdem ritten sie auf den grauen Bergpferden Sorbolds.
Der Bolg-König kauerte sich zu Boden und fluchte stumm. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte er sie bereits in einer Entfernung von einer Viertelmeile kommen gespürt. Er hätte ihre Herzschläge auf seiner Haut gefühlt und sie aus dieser Entfernung unter Beschuss nehmen können. Aber seine Blutgabe, die ihm als dem Erstgeborenen seiner Art auf der Insel Serendair verliehen worden war, war von ihm gewichen, als er die Insel verlassen hatte und im Wurzelgewirr der Sagia verschwunden war, dem Baum des elementaren Sternenlichts. Als er vierzehn Jahrhunderte später in diesem Land eingetroffen war, hatte er seine Fähigkeit, unbeirrbar dem Herzschlag jeder lebenden Kreatur zu folgen, verloren. Sie stand ihm ironischerweise nur dann noch zur Verfügung, wenn er mit jenen zusammen war, die gemeinsam mit ihm von Serendair gekommen waren.
Trotzdem besaß er noch beträchtliches Geschick und eine gute Ausbildung.
Leise lud Achmed den Arm seiner Cwellan mit drei hauchdünnen kreisförmigen Klingen. Diese Waffe hatte er vor einem ganzen Leben für sich selbst entworfen.
Er spannte sie und wartete.
Als die Kohorte ihn passierte, ohne ihn zu bemerken, schoss er den Männern zu Pferd in Rücken und Hals.
Die Klingen schnitten durch die Nähte in ihren Rüstungen. Er lud erneut, feuerte wieder und wieder, noch bevor der erste Körper auf den Boden schlug.
Er hörte, wie die reiterlosen Pferde in einiger Entfernung verwirrt stehen blieben.
Achmed ging auf sie zu, trat dabei über die Leichen und durchsuchte ihr Gepäck. Wie er erwartet hatte, gab es nichts, was darauf hingedeutet hätte, dass sie keine Soldaten aus Roland waren. Er durchstöberte ihre Vorräte, verscheuchte die Pferde und suchte die Körper nach besonderen Merkmalen ab.
Weit vor sich sah er, wie Grunthor und Rhapsody anhielten und ihre Pferde wendeten. Er lief ihnen entgegen und ärgerte sich dabei, dass es nicht sein eigenes empfindsames Netz aus Nerven und Blutgefäßen, sondern die ekelhaften Absonderungen eines Neugeborenen gewesen waren, die ihn auf die Gegenwart ihrer Verfolger aufmerksam gemacht hatten.
»Ich werde allmählich zu alt für diesen Hrekin«, murmelte er.
Nachdem sie in jener Nacht ihr Lager aufgeschlagen hatten, das Kind gestillt war, seine Windeln gewechselt waren und es genauso friedlich wie die beiden Firbolg schlief, holte Rhapsody eine kleine Flöte aus ihrem Gepäck. Es war ein einfaches rotes Instrument, das sie auf Reisen immer mit sich führte. Während Meridion in ihrem Schoß schlummerte und wie immer in den Umhang aus Nebel gehüllt war, begann sie mit einer einfachen Melodie, die sie Ashe in ihren gemeinsamen Tagen oft am Feuer vorgespielt hatte.
Die Wolken im tintenschwarzen Himmel segelten still und gemächlich in der nächtlichen Brise. Rhapsody stellte sich vor, sie binde die Noten des Liedes an ihnen fest, um sie wie eine Liebesbotschaft durch den Himmel zu schicken. Dabei hoffte sie, dass ihr Gemahl unter demselben Firmament stand und dieselben Sterne betrachtete.
Als sie spielte, war sie sich zunächst der Tränen auf ihren Wangen nicht bewusst.
Das Gefühl eines tiefen und erstickenden Verlusts stieg brüllend in ihr auf und machte ihr Lied bitter und schrill. Rhapsody legte das Kinn auf die Brust und erinnerte sich an die gemeinsamen Reisetage, wo sie einander nicht vertraut und sich doch in der Gegenwart des anderen wohl gefühlt hatten, während sie sich langsam und unwiderruflich ineinander verliebt hatten.
Sie konnte nicht glauben, dass sie nun wieder getrennt waren.
Sie räusperte sich, wischte sich wild die Tränen aus dem Gesicht und begann erneut mit dem Lied, wobei sie das musikalische Muster seines Namens hineinwob. Als die Melodie vollständig war, sang sie sie leise nach, während sie noch in der Luft schwebte.