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»Du isst zuerst etwas davon«, sagte sie und schwang dabei das Messer.

Der Mann nickte. Er ergriff den Laib und biss ein Stück vom Ende ab, kaute und schluckte es herunter. Er nahm einen weiteren Bissen, dann noch einen und steckte sich schließlich auch den gesamten Rest in den Mund. Er drehte sich um, lief in den Wald und ließ das niedergeschlagene Mädchen allein zurück.

Melisande stieß enttäuscht die Luft aus, trieb dann ihr Pferd an und folgte ihm. Nun, das war dumm von mir, tadelte sie sich. Vielleicht tut er ja das Richtige. Jedenfalls werde ich von nun an still sein.

Schweigend gingen sie weiter. Kein Laut war zu hören außer dem Winterwind und dem Geklapper der Pferdehufe. Allmählich bemerkte Melisande, dass der Wald sich veränderte. Zuerst schien er heller zu werden. Vielleicht lag hier mehr Schnee auf den Zweigen und Ästen der Bäume. Bald jedoch stellte sie fest, dass viele der Bäume selbst eine weiße oder blassgraue Rinde hatten. Es waren Erlen, Birken und Silberahorne. Aus ihren Studien wusste sie, dass die Vorsilbe Gwyn Weiß bedeutete, aber erst jetzt, als sie diesen Ort mit eigenen Augen sah, begriff sie, warum er so benannt worden war.

Auch gab es viele Stellen, an denen der Boden unter dem Tuch aus Schnee schwarz und versengt war und die Bäume Anzeichen von Brandschäden zeigten. An diesen Orten wuchsen neue Schösslinge und dichtes Unterholz. Die jungen Bäume trotzten aufrecht dem Winterwind und richteten sich dort ein, wo ein Unglück ihre Vorfahren vernichtet hatte. Melisande fühlte sich mit ihnen verwandt; genauso war es bei ihr und Gwydion.

Als die Sonne bereits sank, kamen sie tief im Wald schließlich zu einer größeren Lichtung, auf der ein kleines Dorf lag. Es gab etliche Häuser und Hütten, einige aus Stein und andere aus Lehm oder Fachwerk mit Torfdächern. Darüber hinaus sah Melisande mehrere große, aus Holz errichtete Gebäude mit schweren Türen und kegelförmigen Rieddächern.

Rauch stieg gemütlich aus den Kaminen der Gebäude auf.

Über den Türen der Hütten und Häuser hingen Amulette aus hell bemaltem oder eingelegtem Holz oder aus Emaille, die verzwickte und wunderschöne Muster trugen. Die meisten Gebäude hatten Gärten an der Seite oder im Hinterhof, die winterfest gemacht worden waren und im Frühling zweifellos eine Nahrungsquelle für die Bewohner der Häuser darstellten, die entweder getüncht waren oder Steinornamente als Schmuck besaßen.

Der Mann hatte die Hauptwege durch das Walddorf gemieden, aber Melisande sah dennoch, dass die Leute trotz der Kälte in Wollmänteln umherliefen, die mit Indigo, Goldrute oder Blattgrün gefärbt waren, um Blau, Gelb oder Grün hervorzubringen. Andere waren in Nussschalen oder Heidekraut getränkt, um erdigere Töne zu erzeugen: trauriges Braun und ernstes Grau. Diese Männer und Frauen trugen Körbe und Werkzeuge, und den Beschreibungen zufolge, die Melisande von ihrem Vater und von Rhapsody gehört hatte, vermutete sie, dass es sich um die Filiden handelte, die Naturpriester, die ihren Gottesdienst in dem von ihnen als heilig erachteten Wald abhielten und sich um den Großen Weißen Baum kümmerten, der am letzten der Orte stand, an denen angeblich die Zeit ihren Ausgang genommen hatte.

Zusätzlich zu den in Roben gekleideten Geistlichen sah sie bewaffnete Männer, die Bogen, Speere, Äxte und andere für Waldläufer und Späher typische Waffen mit sich führten und lederne Rüstungen trugen. Melisande bemerkte, dass die Kleidung des Fremden ähnlich der der Waldläufer war. Vermutlich war er einer von ihnen. Sie entspannte sich ein wenig. Wenn er Gavin diente oder ihn kannte, dann würde er ihr sicherlich nichts antun.

Kurz bevor die Sonne hinter dem Horizont versank, kamen sie zu einer großen Wiese mitten im Wald. Dort erhob sich der Große Weiße Baum, dessen Stamm heller als der Schnee war und dessen große, elfenbeinfarbene Zweige sich wie gewaltige Finger in den dämmerigen Himmel erhoben. Seine blasse Borke glimmerte in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne, und seine schiere Größe brachte Melisande dazu, ihr Pferd anzuhalten und ihn verblüfft anzustarren. An seiner Basis besaß er einen Durchmesser von mehr als fünfzig Fuß, und die ersten seiner gigantischen Äste erstreckten sich höher als hundert Fuß über dem Erdboden. Die Gesamtheit der Zweige bildete einen gewaltigen Baldachin, der über die anderen Bäume des Waldes reichte, als wolle er diese vor dem Himmel beschützen.

Um den Stamm war etwa hundert Ellen von den Stellen entfernt, wo die großen Wurzeln den Boden durchstachen, ein Ring von Bäumen gepflanzt, jeder von einer anderen Art. Noch weiter zurück säumten niedrige Steinmauern Wintergärten ein, die mit Bändern und grünen Zweigen geschmückt waren, zweifellos zur Feier des nahenden Frühlings. Vom Rücken ihres Pferdes aus betrachtete Melisande die überwältigende Schönheit, die man ihr bereits früher beschrieben hatte, doch bis jetzt hatte sie sich diesen Ort nicht recht vorstellen können.

Sie wusste nicht, wie lange sie in Gedanken verloren still dagesessen hatte; es hatte beinahe den Anschein, als wäre sie vor Erschöpfung und Anstrengung sowie unter dem Eindruck der Schönheit, die sie hier sah, auf dem Pferd eingeschlafen. Eine Stimme neben ihr weckte sie aus ihrem Tagtraum.

»Kind? Kann ich dir helfen?«

Melisande schaute nach unten. Der Mann war verschwunden.

Eine Frau stand neben dem Pferd. Sie trug eine indigorote Robe mit zurückgeschlagener Kapuze, war schlank und hatte dunkles Haar, durch das sich Silberfäden zogen. Ihr Gesicht und Körper zeigten viele Merkmale, die auch Rhapsody aufwies. Sie muss eine Lirin sein, bemerkte Melisande. Sie hatte schon früher Lirin gesehen, wenn auch selten, und jedes Mal hatte sie bei solchen Begegnungen an ihren Vater gedacht, der dieses Volk sehr geschätzt hatte.

»Äh, ja«, sagte sie und versuchte, ihre Erschöpfung abzuschütteln. »Ich bin hier, weil ich mit dem Fürbitter Gavin sprechen will.«

Die Augen der Frau weiteten sich, und sie lächelte. »Wirklich? Und wer bist du, mein Kind?«

Sie dachte daran, wie aufgeblasen und dumm sie geklungen hatte, als sie dem Mann begegnet war, und wie unbeeindruckt er gewesen war; also versuchte sie, eine größere Demut in ihre Stimme und ihre Worte zu legen.

»Ich heiße Melisande.«

»Also gut, Melisande, du scheinst sehr müde zu sein. Steig ab, und ich werde mich um dich kümmern. Mein Name ist Elara.«

Die Herrin von Navarne schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank. Ich muss wirklich mit Gavin reden. Ich komme von weit her, und er erwartet mich.«

Die Frau seufzte. »Ich weiß nicht einmal, ob er hier ist«, sagte sie und schaute unbehaglich drein. »Eigentlich glaube ich, dass er fortgegangen ist. Aber ich werde ihm eine Nachricht schicken, dass du eingetroffen bist. Komm jetzt herunter, ansonsten fällst du noch vom Pferd.«

Dankbar stieg Melisande ab. Als sie auf den Boden traf, stolperte sie. Sie war vom Hunger geschwächt und ihre Beine waren kraftlos. Die Naturpriesterin legte einen Arm um sie und führte sie zu einem großen Gebäude mit kegelförmigem Dach am äußeren Rand des Wintergartens, in dem viele Männer und Frauen in erdfarbenen Umhängen ein- und ausgingen.

Elara hielt ihr die seltsam beschnitzte Tür auf, über der ein Amulett aus fein gearbeitetem Holz hing, und bedeutete dem Kind mit einer Handbewegung, vor ihr einzutreten. Melisande gehorchte; in ihrem Kopf pochte es.

In dem hölzernen Gebäude, das von einem großen Kamin mit einem knisternden Feuer darin gewärmt wurde, standen viele lange, niedrige Tische und kurzbeinige Stühle, auf denen die Naturpriester saßen, aßen und miteinander redeten. Im Raum wurde es still, als Elara sie zu einem solchen Tisch führte und sie bat, sich zu setzen; dann wurden die Gespräche wieder aufgenommen.