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»Warte hier, ich hole dir etwas zu essen«, sagte die Priesterin.

»Bitte, ich muss mit Gavin sprechen«, platzte Melisande heraus. Panik stieg in ihr auf. »Bitte. Du verstehst das nicht. Ich muss ihn unbedingt sehen.«

Elara drückte ihre Schulter. »Iss erst etwas«, meinte sie. »Ich werde eine Nachricht zu seinem Haus schicken. Wenn er da ist und dich auch sehen will, dann wird er nach dir schicken.«

»Vielen Dank«, sagte Melisande und kämpfte darum, nicht zu weinen. Sie biss die Zähne zusammen und nickte dankbar, als die Priesterin ihr einen Becher mit warmem, gewürztem Apfelwein und einen Teller mit dunklem Brot und Hartkäse brachte. Dann sagte sie leise etwas zu einem Mann in einer braunen Robe ohne Kapuze, der daraufhin Melisande kurz anstarrte und das Gebäude verließ.

Elara bedeutete ihr noch einmal, sich hinzusetzen. »Wie bist du hergekommen?«

»Ein Mann hat mich im Wald entdeckt«, erklärte sie zwischen einigen Schlucken warmen Apfelweins. »Er hat nicht viel geredet, aber als ich ihm gesagt habe, dass ich Gavin sehen muss, hat er mich zu dem Baum gebracht.«

»Das war vermutlich einer der Waldläufer«, sagte Elara. »Sie sind ziemlich wortkarg und still. Es ist ihre Aufgabe, den Wald zu durchstreifen und Hilfe zu leisten, wenn es nötig ist. Warum willst du denn unbedingt mit Gavin sprechen, Melisande?«

In ihrem Bauch breitete sich ein Gefühl aus, das demjenigen nicht unähnlich war, das sie immer bekam, wenn sie krank wurde und sich übergeben musste. Sie versuchte die Tränen zurückzuhalten, doch sie überwanden alle Hindernisse und ergossen sich aus ihren Augen. »Wir wurden angegriffen. Die Kutscher sind tot, und die Soldaten vermutlich auch«, sagte sie und bekam einen Schluckauf. »Und vielleicht auch Ger … Gerald. Ich bin losgeschickt worden, um mit Gavin zu reden … und …«

Die Naturpriesterin machte ein entsetztes Gesicht und legte den Arm wieder um das Mädchen.

»Von wem bist du geschickt worden, Melisande? Wer sollte ein Kind zum Fürbitter der Filiden schicken? Verstehst du überhaupt, worum du bittest? Gavin ist der Anführer einer Religionsgemeinschaft mit mehr als drei Millionen Gläubigen. Es ist, als würdest du in die Basilika zu Sepulvarta gehen und mit dem Patriarchen sprechen wollen – oder zum Palast und den Herrn und die Herrin der Cymrer zu sehen wünschen.«

Melisande legte den Kopf auf die Arme. »Nun, der Herr und die Herrin der Cymrer haben mich zu ihm geschickt«, sagte sie unglücklich, »daher habe ich geglaubt, es wäre nicht schwierig.«

»Der … was?« Elara war sprachlos. Sie zog den Apfelwein und das Brot näher heran und sah schweigend zu, wie das Mädchen aß und trank.

Die geschnitzte Tür des Hauses wurde wieder geöffnet, und der Mann in der braunen Robe kehrte mit weit aufgerissenen Augen zurück. Er nickte Elara zu. Die filidische Priesterin schaute auf das Mädchen herunter und lächelte.

»Nun, dein Wunsch wird dir erfüllt werden. Komm, ich bringe dich zu Gavin.«

18

Die beiden filidischen Geistlichen warteten, bis Melisande mit dem Apfelwein und dem Käse fertig war. Sie stopfte das Brot in die Tasche ihres Umhangs und erntete dabei ein Lächeln von den beiden. Dann wurde sie wieder hinaus in den winterlichen Garten geführt, vorbei an vielen weiteren Leuten in Gewändern, die sich um die schlafenden Beete und widerstandsfähigen Sträucher kümmerten. Bald waren sie am Baumkreis angelangt, der den Großen Weißen Baum umgab.

Die Sonne war inzwischen hinter dem Horizont verschwunden und hinterließ tintenschwarze Wolken im Rest von Blau am Rande der Welt. Der Mond ging gerade auf; er hing tief am Himmel und verbreitete kaltes Licht auf der Wiese. Ein Pfad von dem Gebäude zum Kreis der Bäume und darüber hinaus bis zur anderen Seite der Wiese war von Laternen erhellt, die an hölzernen Pfosten hingen.

Je näher sie dem gigantischen Baum kamen, desto wärmer wurde es Melisande. Es war etwas Verzauberndes an diesem Baum, das bis in ihr Herz hineinreichte. Rhapsody hatte ihr von ihrer eigenen Zeit an diesem seltsamen Ort der Naturmagie berichtet und von den Waldläufern wie dem Mann, der sie zu dem Kreis gebracht hatte. Sie kümmerten sich um die Waldpfade, geleiteten Pilger an die Stätten, die all jenen heilig waren, welche dem Glauben der Filiden anhingen. Auch hatte Rhapsody Melisande von den ausgedehnten Kräutergärten erzählt, wo man die Arzneien und Kräuter zog, die bei den Ritualen benutzt wurden, und von den Heilern, die Verletzungen und Krankheiten sowohl bei Menschen als auch bei Tieren heilen konnten, und vor allem von dem Baum, der angeblich ein uraltes Lied sang, das in seiner Schönheit unbeschreiblich war. Melisande hörte dieses Lied nicht, aber sie spürte seine Macht.

Sie versuchte sich daran zu erinnern, was die cymrische Herrscherin über Gavin selbst gesagt hatte. Rhapsody hatte zusammen mit ihm Forschungen betrieben, hatte in seiner Gegenwart einen großen Teil des Waldes durchstreift und schien ihn sehr zu mögen, doch sie hatte wenig über ihn mitgeteilt, vor allem deshalb, weil niemand ihn wirklich gut zu kennen schien – nicht einmal die Waldläufer, die er persönlich ausbildete. Als Rhapsody ihm zum ersten Mal begegnet war, war er der Oberläufer gewesen und hatte das Amt des Fürbitters erst angenommen, als Ashes Vater Llauron seine menschliche Gestalt aufgegeben hatte und in die eines Drachen geschlüpft war. All das bildete ein ziemliches Durcheinander in Melisandes Kopf; sie war noch sehr klein gewesen, als diese Ereignisse stattgefunden hatten, und daher erschienen sie ihr kaum mehr als ein Märchen – ein Märchen, dessen Akteure sie kannte.

Als sie die dunkle Wiese überquerten, glaubte sie wieder Anzeichen eines kürzlich ausgebrochenen Feuers zu erkennen. Viele der Bäume im Kreis um den Großen Weißen Baum waren neu angepflanzt oder schlimm verbrannt, einschließlich des dichten Waldes aus uralten, hohen und ausladenden Bäumen, die um das Haus herum standen, auf das sie nun zugingen.

Im Gegensatz zu dem Haus, in dem Llauron gelebt und das sie auf Zeichnungen im Museum ihre Vaters gesehen hatte, war dieses kaum mehr als eine große Hütte mit einem hohen Walmdach und Wänden aus duftendem Zedernholz. Llaurons Haus war von seinem Vater Gwylliam dem Visionär zwischen den Bäumen errichtet worden und hatte diese in vielen seltsamen Winkeln umgeben. Teile davon hatten bis in den Baldachin aus Blättern gereicht, und ein Turm in der Mitte war so hoch gewesen, dass er über den Wald hinausgeblickt hatte. Das ganze Anwesen war von vielen schönen, gemütlichen Gärten umgeben gewesen. Melisande war von den Zeichnungen begeistert gewesen, und ihr Vater hatte ihr die großartigen Erfindungen beschrieben, die Gwylliam darin installiert hatte, um es den Pflanzen zu ermöglichen, in Glashäusern auch im Winter zu wachsen. Außerdem hatte es Röhren im Haus gegeben, durch welche die Leute mit anderen Leuten in anderen Räumen hatten sprechen können, und eine hoch gelegene Voliere mit Botenvögeln darin, die in wunderschönen Bambuskäfigen lebten; diese glichen den Zielgebäuden, zu welchen sie ihre Botschaften bringen sollten. Dort hatten Stephen und Ashe als Jungen viele glückliche Stunden verbracht. Der Gedanke an seine Miene, wenn er sich an jene Zeiten erinnerte, schmerzte sie trotz ihrer bezaubernden Umgebung.

Im Gegensatz zu diesen Beschreibungen war das neue Haus klar gegliedert und einfach; es war kaum größer als der Marstall in Haguefort, der eine Festung im Kleinen war. Die Fenster waren rund und hatten vorgelegte Holzläden mit einfachen Kästen darunter. Das Haus war einstöckig bis auf einen schmalen, weit über die Baumwipfel reichenden Aussichtsturm mit einer eingebauten Treppe. Zwei Laternen flankierten die Hütte, und ihre Flammen brannten hell, wenn auch nicht warm.

Das einzig Bemerkenswerte an diesem Gebäude war die Tür. In den Schatten, die die Laternen warfen, erschien sie von Ruß überzogen, aber nicht verbrannt. Sie war gewölbt und bestand aus einem Holz, das Melisande nicht kannte. Außerdem war sie von Salz angefressen. Die winzigen Überreste eines Bildnisses waren kaum mehr sichtbar; es war nur noch eine abgeblätterte Vergoldung zu erkennen, die einst ein mythisches Wesen, vielleicht einen Drachen oder einen Greif, bedeckt hatte.