Выбрать главу

Eine große, von schlafenden Gärten gesäumte Steinmauer führte zu der schweren Holztür, die von Waldläufern bewacht wurde.

»Hier lebt Gavin«, erklärte Elara. Sie ging zu den Wächtern und redete mit ihnen in einer Sprache, die Melisande nicht verstand. Die Wächter antworteten ihr in derselben Sprache. Elara nickte und drehte sich zu dem Mädchen um.

»Gavin ist beim Baum«, sagte sie. Mit dem Kopf deutete sie hinüber zu der Wiese, auf der sich eine große Anzahl Filiden und Waldläufer befanden. Einige kümmerten sich um den Wächterkreis der Bäume, andere berieten sich, wieder andere waren in rituelle Gebete versunken. »Komm.«

Melisande folgte ihr den Pfad zurück und bis hinter den Kreis der Wächterbäume zu einer Stelle unter einem gewaltigen weißen Ast, der im Licht des aufgehenden Mondes leuchtete.

Einige bärtige Männer in einfacher grüner und brauner Kleidung sprachen leise miteinander. Derjenige, der mit dem Rücken zu ihr stand, deutete in Richtung Norden, dann verneigten sich die anderen und verließen ihn. Er stand für einen Augenblick da, als ob er auf etwas lausche, das nur er allein hören konnte. Schließlich drehte er sich um und sah hinunter zu Melisande.

Es war der Waldläufer, der sie zum Kreis gebracht hatte.

»Gavin, das hier ist das Mädchen, von dem wir Euch berichtet haben«, sagte Elara. »Sein Name ist Melisande.«

Der Waldläufer nickte und verbarg ein Lächeln, als er das Entsetzen auf dem Gesicht des Mädchens sah. »Guten Tag, Herrin Melisande von Navarne.«

»Ihr seid Gavin?«, platzte Melisande heraus.

»Das bin ich.«

»Warum habt Ihr mir das nicht schon vorher gesagt?«

Der düstere Mann sah sie noch eingehender an. »Ihr habt mich nicht gefragt«, meinte er. »Ihr habt mir lediglich gesagt, wer Ihr seid.« Er gab Elara ein Zeichen. Die filidische Priesterin verneigte sich vor ihm, lächelte Melisande an und zog sich zurück, wobei sie den anderen im Kreis bedeutete, ihr zu folgen.

Gavin wartete, bis sie allein unter dem Großen Weißen Baum waren, und wandte dann seine Aufmerksamkeit wieder dem Mädchen zu. »Ich rate Euch respektvoll, in Zukunft nach den Namen derjenigen in Eurer Umgebung zu fragen und bezüglich Eures eigenen weniger mitteilsam zu sein, Herrin. Ein tapferer Sinn kann nicht immer einen närrischen Kopf bezwingen.«

Im Licht der Laternen wurde Melisande rot. Der Fürbitter sah ihre Verlegenheit und bedeutete ihr, zusammen mit ihm näher an den Großen Weißen Baum heranzugehen.

»Wir befinden uns jetzt außerhalb des Windes und im Schutz des Baumes«, erklärte er, als sie unter den überhängenden Ästen Halt machten. »Hier ist der sicherste Ort im ganzen Wald für eine Unterredung, ohne dass man fürchten muss, belauscht zu werden. Sagt mir, Herrin Melisande von Navarne, warum hat die cymrische Herrscherin Euch zu mir geschickt?« In seinen dunklen Augen funkelte es. »Abgesehen von Eurem ausnehmend tapferen Geist und der bei jemand von Eurem Alter selten so ausgeprägten Fähigkeit zu überleben.«

Melisande holte tief Luft und versuchte sich an Rhapsodys Worte so zu erinnern, wie diese sie gesprochen hatte.

»Die cymrische Herrscherin hat mir aufgetragen, Euch zu bitten, mich zusammen mit einem vollen Kontingent Eurer besten Waldläufer und mit Eurem fähigsten Heiler zum Wald nord-nordöstlich des Tar’afel mitzunehmen, dort wo die Stechpalmen am dichtesten stehen. Sie hat gesagt, Ihr kennt den Ort.« Der Fürbitter nickte nachdenklich. »Ich soll Euch weiterhin bitten, Eure Waldläufer dort ausschwärmen zu lassen; sie sollen einen Abstand von einer halben Meile zueinander halten und eine Barriere bilden, die sich nach Nordwesten bis zum Meer erstreckt, und dabei alle ihnen zur Verfügung stehenden Fallen und Schlingen einsetzen, die zum Schutz der Barriere nötig sind. Dort sollen sie bleiben und keiner lebenden Seele den Zutritt erlauben.«

Der Fürbitter seufzte und betrachtete Melisande eingehend. Seine Augen glommen hell in der Dunkelheit.

»Wenn das geschehen ist, bittet sie darum, dass Ihr mich persönlich von diesem Ort aus weiterführt. Ein Bach ergießt sich dort in den Tar’afel. Wir sollen ihm nordwärts folgen, bis wir zum Spiegelsee kommen.«

Der Fürbitter schüttelte den Kopf. »Das ist heiliges Land, das ich noch nie betreten habe. Es ist das Reich der Drachin Elynsynos. Ich kenne keinen solchen See.«

»Sie hat gesagt, wir würden ihn sofort erkennen, denn sein Name beschreibt ihn vollkommen. Bei diesem See soll ich Euch verlassen und allein Weiterreisen. Sie bittet Euch, dort auf mich zu warten, aber nicht länger als drei Tage. Falls ich dann noch nicht zurückgekommen sein sollte, müsst Ihr wieder zum Kreis gehen.«

»Ich soll Euch Eurem Schicksal überlassen?«, fragte der Fürbitter.

Melisande seufzte. »Ich vermute es, ja.«

»Und Ihr habt Euch mit all dem einverstanden erklärt, Herrin Melisande von Navarne?«

Das Mädchen reckte die Schultern und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Nun reichte es dem Mann bis knapp über die Hüfte.

»Das habe ich. Und mir sind die Folgen vollkommen klar.«

»Und das ist alles? Ihr braucht mich lediglich als Geleitschutz in den verbotenen Ländern und wollt Euch dort einfach Eurem Schicksal überlassen?«

»Nein«, erwiderte Melisande rasch, als sie sich an den Rest ihrer Anweisungen erinnerte. »Ich erwarte, innerhalb der angegebenen Zeit mit einer oder zwei Bitten zu Euch zurückzukehren. Entweder werde ich Euch darum ersuchen, mich zusammen mit dem Heiler zu begleiten, oder wir müssen die Höhle der Drachin versiegeln.«

Plötzlich wurde der Fürbitter starr. »Was ist mit Elynsynos geschehen?«, fragte er besorgt.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Melisande offen. »Aber Rhapsody befürchtet das Schlimmste.«

»Das sind in der Tat schlechte Neuigkeiten«, meinte der Fürbitter und drehte sich dem silbernen Stamm des Großen Weißen Baumes zu. Er schwieg eine Weile und wandte sich dann wieder an Melisande.

»Wenn Ihr wirklich bereit seid, diese Aufgabe zu übernehmen, dann ist es mir eine Ehre, Euch zu begleiten«, sagte er schließlich. »Ich habe noch zwei letzte Fragen an Euch, Melisande von Navarne.«

»Ja?«

»Wie alt seid Ihr?«

»Neun«, antwortete sie. »Aber ich werde am ersten Frühlingstag zehn, was also nicht mehr lange dauert.«

Der Fürbitter nickte. »Und wie alt fühlt Ihr Euch heute?«

Melisande zog zunächst verwirrt und dann nachdenklich die Brauen zusammen.

»Viel älter«, sagte sie. »Mindestens zwölf.«

»Sehr gut«, meinte der Fürbitter.

»Darf ich Euch jetzt auch etwas fragen?«

»Natürlich.«

»Wie habt Ihr mich im Wald gefunden? Wisst Ihr, ob mein Kammerherr und die Soldaten noch leben?«

Der Fürbitter lächelte. Es war ein ungewöhnlicher Gesichtsausdruck, den er offenbar nur sehr selten aufsetzte.

»Zuerst zur zweiten Frage. Euer Kammerherr lebt wirklich noch und auch zwei Eurer Soldaten. Sie wurden von meinen Waldläufern entdeckt und sind unter Geleitschutz nach Haguefort zurückgekehrt.

Und zu der Frage, wie ich auf Euch gestoßen bin – die Wälder haben mir gesagt, dass da eine tapfere junge Frau ist, die ihre Angreifer abgeschüttelt und sich dann verirrt hat. Ich bin auf die Suche nach Euch gegangen, denn eine solche Person wie Ihr darf nicht den Launen des Schicksals und Unglücks überlassen werden. Und das werde ich wieder tun, Herrin Melisande Navarne. Glaubt mir, was auch immer geschehen wird, ich werde Euch zu Hilfe kommen.«

II

Im Auge des heraufziehenden Sturms

19

Palast von Jierna Tal — Jierna’sid, Sorbold

Auch wenn es gefährlich war, dies zuzugeben, so hasste Talquist doch die Seher.

Während er auf dem schweren Teppich hin und her lief, der auf dem Marmorboden des Herrscherpalasts lag, murmelte er leise, zügellose Flüche und böse, aber belustigende Obszönitäten, die er während seiner Zeit in der Handelsflotte von den Seeleuten gelernt hatte, als er sein erstes Vermögen erworben hatte. Auch wenn die Macht der Krone berauschend war, vermisste Talquist insgeheim diese Tage, in denen er die weite Welt mit kaum mehr als Sand in den Taschen und einem Plan in seinem Kopf durchwandert hatte. Er vermisste den Anblick der Schiffe, die mit flatternden Fahnen aus aller Welt in den Hafen einliefen; er vermisste den Geruch der Leinwandsäcke, die prallvoll mit Gewürzen und Saatgut waren; er vermisste das Lachen in den dunklen Tavernen und das Ächzen der Hafenarbeiter, die bei Nacht und in nebligem Regen die Güter ausluden. Und ganz besonders vermisste er das Meer, denn das Meer war immer gut zu ihm gewesen und hatte ihm alles Wertvolle gegeben, das er besaß.