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Vor allem hatte es ihm die Macht gegeben, die er nun über den Rand des Wassers bis zur anderen Seite der Bekannten Welt ausdehnen wollte.

Der Regent hielt inne, als er an einem gewaltigen Spiegel in seinem Schlafgemach vorbeikam. Ein gewöhnlicher Mann, schwer und muskulös, schaute ihn daraus an, mit dunkler Haut, dunklem Haar und dunklen Augen. Ein Mann, der sich in nichts von anderen Männern in diesem Reich der endlosen Sonne, des Sandes und der Berge unterschied mit Ausnahme der Tatsache, dass er mit Gold geschmückt und in Gewänder aus feinstem Leinen gekleidet war, für das Sorbold in der Kaufmannswelt hochberühmt war. Ein gewöhnlicher Mann – von außen vielleicht.

Doch in diesem gewöhnlichen Mann, dachte Talquist, steckt eine Vision, die alles andere als gewöhnlich ist.

Talquist war zwar ein Visionär, aber er war kein Seher. Der Regent ging weiter; sein Atem kam stoßweise und passend zu seiner steigenden Enttäuschung. Er hatte lange geplant, abzuwarten, seinen Teil beizutragen und alle Teile so genau zusammenzufügen wie die Kunsthandwerker von Keltar, die verzwickte Abbildungen der Welt in Gemmen einschnitten, die kleiner als ein Fingernagel waren. Er hatte zwar seine Visionen und Träume und wusste, wie er seine Mittel einsetzen musste, um sie Wirklichkeit werden zu lassen, aber genau an diesem Punkt verließen ihn seine Fähigkeiten. Er konnte nicht vorhersehen, ob seine Maßnahmen die gewünschten Wirkungen hervorbrachten.

Zumindest noch nicht.

All das wird sich ändern, rief er sich in Erinnerung.

Seine Ruhe kehrte schrittweise zurück. Talquist drehte sich um und ging die Wendeltreppe in der südwestlichen Ecke seines Schlafgemachs hinauf zur Turmstube.

Jede Ecke seines Schlafzimmers hatte einen solchen Turm. Die drei übrigen beherbergten Armbrustschützen von überragenden Fähigkeiten, genau wie der große mittlere Balkon im Hauptgeschoss. Der Balkon und zwei der Türme gingen nach Westen in den roten Sonnenuntergang hinaus und überblickten die Berge, welche die Hauptstadt Jierna’sid umgaben, sowie die Grassteppe und die weiten Krevensfelder dahinter bis zum tausend Meilen entfernten Meer. Die anderen beiden Türme blickten nach Südost und Nordost, und auf ihnen beobachteten die Späher die Berge im Gleißen der aufgehenden Sonne.

Doch nur dieser besondere Turm trug Spuren frischen Mörtels und erneuerter Ziegel; sie bedeckten das, was vor nicht langer Zeit noch ein gewaltiges Loch gewesen war.

Als Talquist die oberste Stufe erreicht hatte, fragte er sich, ob er den Platz in diesem Turm nicht verschwendete und sich gleichzeitig verwundbar machte, weil er hier keine Armbrustschützen positioniert hatte, doch einen Augenblick später verwarf er diesen Gedanken wieder, als er sich an die vierzigtausend Soldaten erinnerte, die allein in dieser Stadt lagerten und nichts anderes im Sinn hatten als seine eigene Sicherheit.

Der Raum am oberen Ende der Treppe war klein und kärglich und besaß keinerlei Dekoration außer einer Karte des Kontinents an der Wand. Die südlichen und westlichen Wände waren dem Wind preisgegeben, damit man leichter Pfeile und andere Verteidigungsgeschosse abfeuern konnte. Die Ecken der Karte flatterten in der steifen Brise. Die Öffnung blickte auf den Hof an der westlichen Seite und auf einen Abgrund an der südlichen.

In einem kleinen Schaukelstuhl aus Rohr mit Blick auf das westliche Turmfester saß eine Frau mit dem Rücken zu Talquist. Sie hatte den Kopf der Sonne entgegengedreht und die Augen in deren Glanz geschlossen.

Talquist versuchte sich zu beruhigen, indem er leise und regelmäßig atmete. Er trat auf den Steinboden und schritt langsam von hinten auf die Frau zu.

Sie bewegte sich nicht; sie schien ihn nicht zu bemerken.

»Guten Tag, Rhonwyn«, sagte er so freundlich wie möglich.

Die Frau öffnete die Augen nicht, sondern runzelte nur ihre glatte Stirn beim Klang seiner Stimme.

Diesmal atmete Talquist lauter. Es war heute schon sein vierter Versuch, mit der Seherin der Gegenwart in Kontakt zu treten, und jedes Mal war er wütender geworden. Ihre mystische Stellung als eine der drei Seherinnen der Zeit und, wichtiger noch, sein dringendes Bedürfnis nach ihren einzigartigen Fähigkeiten erforderte von ihm eine Geduld, die er normalerweise nicht besaß.

»Guten Tag, Rhonwyn«, wiederholte er.

Diesmal öffnete die Frau die Augen, drehte sich langsam in ihrem Stuhl und sah ihn an. Trotz ihres hohen Alters war ihr Gesicht so glatt, als befände sie sich in der Blüte ihrer Jahre. Ihr Haar war im Scheitel rot-golden, wurde in dem langen, von Lederbändern gehaltenen Zopf immer dunkler, dann grau und lief schließlich in einer schneeweißen Spitze aus.

Ihre Augen hatten keine Iris; die Pupillen waren leer und spiegelten ein verzerrtes Abbild seiner selbst wider.

»Nein«, sagte Rhonwyn. »Ich glaube nicht.«

Galle füllte Talquists Kehle. Obwohl der Tonfall der Frau zart und traumartig war, bildeten ihre Worte doch eine harte Beleidigung. Er schluckte seine bittere Wut herunter, trat neben sie und schaute aus dem Fenster auf den tief unter ihm liegenden Hof.

Jierna Tal war eines der modernen architektonischen Weltwunder, ein glatter Steinpalast auf einem zerklüfteten Felsvorsprung über einem beinahe bodenlosen Abgrund, der in klaren Winkeln zu ungeahnten Höhen aufstieg. Über den Ecken erhoben sich spiralförmige Minarette und Glockentürme, die gelegentlich von niedrig hängenden Wolken eingehüllt wurden. Die gewaltige Entfernung von den Pflastersteinen der Straße bis zu den Spitzen der Türme war für Talquist regelmäßig eine Metapher, die ihn daran erinnerte, wie weit er aus der Gosse bis zu seiner hohen Position aufgestiegen war. Unmittelbar hinter dem Innenhof stürzte der Fels weitere tausend Fuß tief in einen Abgrund, der zu den Verteidigungsanlagen des Palasts gehörte, und unterstrich damit noch die erhöhte Lage des Gebäudes.

Ein langer Schatten lag über dem Innenhof; er zuckte gelegentlich und glitzerte im bernsteinfarbenen Licht der Sonne. Talquist schaute hinüber zu dem Marktplatz der Stadt auf einem Hügel jenseits des Palasts.

Dort erhob sich im Dunst des Nachmittags ein weiteres Relikt über Jierna Tal, das ihn daran erinnerte, wie weit er es gebracht und welchen Umständen er seine Regentschaft zu verdanken hatte: die große Waage. Sie war ein gewaltiges und uraltes Artefakt, das die cymrischen Flüchtlinge aus der alten Welt mitgebracht hatten, deren Abkömmlinge nun über den Mittleren Kontinent herrschten. Riesige Arme tarierten zwei Schüsseln aus poliertem Gold aus, die so groß waren, dass darin ein Ochsenkarren Platz hatte. Talquist lächelte. Er selbst hatte auf einer der Waagschalen gestanden und war zum Erstaunen der Menge in die Luft gehoben worden. Danach hatte man ihn zum Herrscher ausgerufen.

Bescheiden hatte er darauf beharrt, dass nach dem unzeitigen Tod der vorherigen Monarchin und ihres Erben eine Wartezeit von einem Jahr vergehen sollte, bevor er sich krönen ließ. In der Zwischenzeit herrschte er als Regent von Sorbold und verwaltete die Macht, die im kommenden Frühling offiziell zu seiner eigenen werden würde.

Inoffiziell hingegen hatte er seine Macht schon oft eingesetzt.

Nun waren die Straßen von Jierna’sid, die früher kaum mehr gewesen waren als ein kläglicher Markt mit Bettlern und Verkaufszelten, Viehverkehr und rußigen Grubenfeuern, über denen Ziegenfleisch gebraten worden war, in einen sauberen Ort verwandelt worden, wo Soldaten patrouillierten und Marschlieder sangen und sich ausgedehnte Leinenwebereien und andere Handwerksbetriebe befanden, deren einzige Kunden das Heer und die Krone waren. Jierna Tal, das in seiner schäbigen Umgebung schon seit langem fehl am Platze gewirkt hatte, war genauso verwandelt worden wie er selbst: in den königlichen Mittelpunkt einer in der Wüstenhitze wachsenden und gedeihenden Stadt, die unter den Strahlen der endlos scheinenden Sonne, für die Sorbold bekannt war, immer mehr erstarkte.