Das war nur der Anfang.
Talquist schaute wieder die alte Seherin an. Rhonwyns dünne Hände hielten einen zerbeulten Metallkompass, der angeblich schon von ihrem serenischen Vater vor vierzehn Jahrhunderten dazu benutzt worden war, den Weg von der untergehenden Insel Serendair zum Wyrmland zu finden. Ihre Fähigkeit, die gegenwärtige Wahrheit zu erkennen, war ein Geburtsrecht, das sie durch die elementare Macht des Erforschers Merithyn und ihrer Drachenmutter Elynsynos erhalten hatte. Das beeindruckte Talquist nicht besonders. Er war ein Abkömmling der eingeborenen Menschen, die seit unvordenklicher Zeit am Rande des Wyrmlandes gelebt hatten, bevor die Cymrer mit ihren seltsamen Kräften und ihrer lächerlichen Langlebigkeit gekommen waren.
Doch auch wenn ihn die Macht der Cymrer nicht beeindruckte, war ihre Langlebigkeit – diese scheinbare Widerstandskraft gegen die Verheerungen der Zeit – etwas, wonach es ihn besonders gelüstete.
In Anbetracht der umfangreichen Liste seiner Wünsche war das durchaus beeindruckend.
Vor langer Zeit hatte er einmal zufällig gehört, dass der Funke, der das Feuer des Großen Krieges entfacht und die Illuminaria – Gwylliams Epoche der Reichsgründung und Aufklärung – beendet hatte, nichts als ein Familienstreit über die Erbfolge gewesen war. Es war allgemeine Überlieferung, dass Edwyn Griffyth, Gwylliams ältester Sohn, sein Erbrecht verschmäht hatte und nach Gaematria, dem legendären Rech der Meeres-Magier, gegangen war, um dort den Rest seines Lebens zu verbringen. Daher vermutete Talquist, dass Gwylliam der männliche Erbe verwehrt gewesen war, den er auf seinem Thron hatte sehen wollen. So gab es keine Dynastie, die nach ihm weiterleben würde, auch wenn er als unsterblich angesehen wurde.
Talquist wollte keine Dynastie begründen. Er brauchte keine Erben.
Er würde auf ewig leben.
Er ging hinüber zu der zarten Frau und hockte sich neben sie.
»Bitte, Großmutter«, sagte er; seine Kaufmannsstimme war so weich wie canderianische Seide, »schaue hinter den Nebel und die Traumfetzen, die deine Augen umwölken, und sage mir: Ist der Stoßtrupp erfolgreich gewesen?«
Die Spiegel in den Augen der Seherin zeigten nichts anderes als sein Gesicht; ihr eigenes Antlitz war leer.
Talquist fluchte stumm. Er hatte noch immer nicht gelernt, auf die richtige Weise mit ihr zu reden, sodass sie seine Fragen verstehen konnte. Rhonwyn vermochte nur die Gegenwart zu sehen, und was er sie gefragt hatte, erforderte von ihr ein Wissen um die Vergangenheit. Er schluckte und versuchte es noch einmal.
»Der Stoßtrupp der Zweiten Bergwacht von Sorbold … ist das Kind der Zeit in ihrem Gewahrsam?«
Die alte Frau schüttelte den Kopf.
Talquist seufzte. »Wo ist der Stoßtrupp jetzt?«
Die Seherin hatte den flüchtigen Blick auf den Moment zuvor bereits verloren. »Welch ein Stoßtrupp?«
Er bemühte sich, die kochende Wut aus seiner Stimme fernzuhalten. »Der Stoßtrupp der Zweiten Bergwacht von Sorbold … wo befindet er sich in diesem Augenblick?«
Rhonwyn zitterte vor Altersschwäche und fuhr mit den Fingern über das nautische Instrument in ihren Händen.
»Sechsundvierzig, achtundvierzig Nord, zwei, zwanzig Ost«, verkündete sie.
Talquist schaute auf der Karte an der Wand nach. Diesen Koordinaten zufolge befanden sich seine Geheimsoldaten, die in den Uniformen der gewöhnlichen Kavallerie von Roland steckten, in dem nur dünn besiedelten Waldland östlich von Navarne, weniger als eine Tagesreise von ihrem ursprünglichen Ziel entfernt – einer kleinen Festung im Herzogtum Navarne.
Haguefort.
»Und das Kind der Zeit?«, drängte Talquist. »Ist es wohlauf?«
Die Seherin blinzelte, schloss wieder die Augen und badete im Licht des Himmels.
Der Regent ballte die Hände so fest zu Fäusten, dass seine säuberlich geschnittenen Fingernägel die Haut seiner Handflächen zu durchstechen drohten. Nur so konnte er sich davon abhalten, den Kompass zu ergreifen und eine seiner scharfen Nadeln der alten Seherin ins Herz zu treiben. Er zwang sich dazu, ruhig zu bleiben, so wie er es immer während dieser Befragungen tun musste.
»Befindet sich das Kind der Zeit wohlbehalten in Haguefort? Antworte mir.«
Rhonwyn schlug die Augen auf und sah ihn an, während ihre Hände an dem zerbeulten Instrument herumtasteten.
»Ich sehe kein Kind der Zeit in Haguefort.«
»Wovon redest du? Als ich dich vor vierzehn Tagen gefragt habe: ›Wo ist das Kind der Zeit?‹, da hast du geantwortet: ›Im Gwynwald.‹ Seitdem gibst du mir jeden Tag Koordinaten, die eindeutig immer weiter zurück nach Haguefort führen. Gestern lautete deine Antwort auf meine Frage ›Haguefort‹. Wenn es nicht da ist, wo dann?«
Der Mund der Frau zitterte, aber sie sagte nichts.
Schwarze Wut explodierte hinter Talquists Augen. Ungehindert von jedem rationalen Gedanken schoss seine Hand hervor und packte die alte Seherin bei der Kehle.
Rein verstandesmäßig wusste er, welches Sakrileg er damit beging, doch sein Verstand war von seiner Enttäuschung vollkommen ausgeschaltet worden.
Die brüchigen Knochen in ihrem alten Hals knirschten unter seinem eisernen Druck. Die Seherin keuchte; ihre Lippen bebten vor Entsetzen. Der Regent lockerte seinen Griff und trat schwer atmend von der zarten Frau zurück.
»Noch einmal, Rhonwyn«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen, »wo ist das Kind der Zeit? Wo ist es?«
Purpurfarbene Quetschungen erschienen auf den Hautfalten unter Rhonwyns Kinn und verschwanden rasch wieder. Nachlässig fuhr sie sich mit der Hand über den Hals. Ihr Gesicht war jedoch vor Schreck verzerrt, der einen Moment später zur Vergangenheit verblasste und abermals durch Gelassenheit ersetzt wurde.
»Ich sehe kein Kind der Zeit auf dem Antlitz der Erde«, sagte sie fröhlich. Dann lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und schaukelte langsam vor und zurück. Ihre Augen hatte sie wieder vor der wärmenden Sonne geschlossen.
Talquist schluckte und versuchte es noch einmal.
»Seit seiner Geburt habe ich dich nach seinem Aufenthaltsort gefragt, und jedes Mal hast du gesagt, das Kind ist bei dem Herrn und der Herrin der Cymrer«, sagte er sanft. »Ist es noch immer bei ihnen?«
»Ist was noch immer bei wem?« Das Gesicht der Seherin war ausdruckslos; keinerlei Verstehen lag in ihrer Stimme.
Ein bitterer Geschmack erfüllte Talquists Mund. Nach einigen Herzschlägen begriff er, dass dieser Geschmack von seinen zusammengebissenen Zähnen herrührte. Und er war eine faulige Erinnerung an die Nacht, in der er vor Rhonwyns Schwester Manwyn, der Seherin der Zukunft, gestanden und einen ähnlich ärgerlichen Tanz aufgeführt hatte, während er vor stiller Verzweiflung geschäumt hatte, als die Wahnsinnige sich kichernd auf ihrer Plattform über der dunklen Grube in ihrem verfallenden Tempel zu Yarim hin und her geworfen und kranke Vorhersagen in die vom Weihrauch schwere Luft geworfen hatte. Schließlich hatte er die Geduld verloren, seine Armbrust gehoben und auf ihr Herz gezielt.
Sag es mir, alte Hexe, oder ich werde deinem verrückten Gerede ein Ende setzen. Beantworte meine Frage. Was muss ich tun, um Unsterblichkeit zu erlangen? Wer besitzt das Wissen um das ewige Leben?
Die Frau hatte innegehalten, als wäre sie plötzlich erstarrt. Sie hatte ihre Spiegelaugen auf ihn gerichtet, und ihre dünnen Lippen hatten sich zu einem schiefen Lächeln verzerrt. Sie hatte durch den zerbeulten Sextanten geschaut, den ihr Vater ihr hinterlassen hatte, auf die Sterne, die in der dunklen Kuppel ihres Tempels geglommen hatten. Dann hatte sie ihre blinden Augen wieder auf Talquist gerichtet.