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Du wirst mich nicht töten, Regent, hatte sie gesagt. Die Zukunft zeigt mir kein Bild mit meinem Blut an deinen Händen, auch wenn sie vom Blut zahlloser anderer getränkt sein werden. Dann hatte sich Manwyn auf den Bauch gelegt und war ihm auf ihrer schwebenden Plattform entgegengekrochen. Wenn das, was du suchst, die Unsterblichkeit ist, dann musst du das Kind der Zeit finden. Sie hatte wie zu sich selbst gekichert. Noch schläft es im Bauch seiner Mutter, doch bald wird es ans Licht und an die Luft der Welt kommen. Und die Zeit wird keine Herrschaft über es haben.

Talquist schluckte den bitteren Geschmack herunter und erinnerte sich daran, wie ihm der Atem ausgegangen war, als er den Bogen gesenkt hatte.

Wie werde ich die Unsterblichkeit von diesem Kind der Zeit erlangen können?, hatte er mit schwankender Stimme gefragt.

Die Seherin hatte sich plötzlich aufrecht hingesetzt, als hätte jemand sie geschlagen. Mit zitternden Händen hatte sie sich an den Mund gegriffen. Dann hatte sie eine bebende Hand ausgestreckt und anklagend auf ihn gezeigt.

Mörder, hatte sie geflüstert. Die goldene Haut ihres Gesichts war im schwachen Licht der Kerzen sichtbar blasser geworden. Mörder, Mörder!

Da hatte er ihren verfallenden Tempel verlassen, während ihm das Geheul der Wahnsinnigen noch in den Ohren geklungen hatte. Seine Spione hatten ihm berichtet, dass die Wächter des Tempels die großen Zederntüren zu Manwyns Gemächern kurz darauf für alle Pilger, die um Prophezeiungen bitten wollten, geschlossen hatten. Es lief das Gerücht um, dass Manwyn von diesem Tag an unablässig das Wort Mörder geschrien hatte.

Talquist atmete tief durch und neigte sich dann wieder zu Rhonwyn.

»Ein letztes Mal für heute«, sagte er sanft und mit tödlich ruhiger Stimme, obwohl es in seinem Magen brodelte. »Sage mir, wo sich das Kind der Zeit jetzt befindet.«

Die Seherin drehte sich ihm zu und schlug langsam die Augen auf. Talquist wich vor Entsetzen zurück. Beide Spiegelaugen enthielten nun zum ersten Mal eine klare blaue Iris, und die dunklen Pupillen zogen sich im Licht der untergehenden Abendsonne zusammen.

Die Seherin schaute ihn nachdenklich an.

»Genau vor dir, vermute ich«, sagte sie mit fester Stimme. »Meine Schwestern und ich sind oft so genannt worden: die Kinder der Zeit.« Sie wandte den Blick von ihm ab und schaute aus dem Fenster auf die dahinter liegenden Berge. »Ich erinnere mich, Anwyn«, sagte sie leise.

Wut durchraste Talquist so plötzlich, dass er zunächst gar nicht die Vergangenheitsform bemerkte, in der sie gesprochen hatte. Er packte die Lehne ihres Stuhls, um sich daran festzuhalten, und beugte sich dann so weit zu ihr vor, dass seine Lippen ihr kastanienbraunes Haar dort berührten, wo es allmählich grau wurde.

»Ich weiß nicht, ob du in deinem Zustand geistiger Verwirrtheit begreifen kannst, welche Risiken ich wegen deiner angeblich unfehlbaren Worte eingegangen bin und welche Opfer ich gebracht habe«, sagte er mit beißender Stimme. »Ich habe Soldaten nach Roland geschickt, bevor ich bereit war, den Angriff zu führen. Ich habe mich sehr weit aus dem Fenster gelehnt. Sicherlich weiß der Patriarch inzwischen von deinem Verschwinden, und vielleicht weiß es auch schon dein Großneffe, der cymrische Herrscher. Der Pfeil ist bereits abgeschossen, und das ist deine Tat, Rhonwyn – als ob du selbst den Befehl gegeben hättest.«

»Manwyn, die Gegenwart wird verhüllt sein«, flüsterte die Seherin und starrte in die Sonne. »Du wirst mich nicht mehr sehen, wenn du den Himmel nach der Zukunft absuchst. Lebe wohl, Schwester.«

Etwas Schwarzes brach in dem Regenten auf. Er packte die zerbrechliche Frau an Hals und Arm, und ohne nachzudenken warf er die alte Seherin aus dem Fenster über den Hof hinaus in den Abgrund.

Ihr Schrei folgte ihr den Bruchteil einer Sekunde später hinunter und verängstigte die Schwalben, die in den Mauerhöhlungen saßen. Sie flatterten in einem großen grauen und weißen Aufruhr himmelwärts.

Talquist richtete sich zitternd auf. Nun kehrte seine Selbstbeherrschung zurück. Er schaute aus dem Fenster in die beinahe bodenlose Tiefe und suchte nach einem Anzeichen für die mythische Frau. Angestrengt lauschte er nach irgendeinem Geräusch, welches das Überleben der Tochter des Schicksals ankündigte, doch er hörte nichts außer dem Heulen des Windes, der durch die Schlucht fegte und Staub in großen Wirbeln über die Steine des Innenhofes trieb. Er dachte über den Verlust an Wissen nach, von dem er die Welt soeben befreit hatte.

»Ich habe schon oft gehört, dass die Zeit dahinfliegt«, sagte er. »Allerdings.«

Stiefeltritte donnerten die Stufen hoch. Talquist drehte sich gemächlich um und sah, wie seine Turmwächter auf der Treppe erschienen, gefolgt von seinem keuchenden Kammerherrn.

»Ist … ist alles in Ordnung mit Euch, Herr?«, fragte der Kammerherr in seinen Atempausen.

»Es war nie besser«, sagte Talquist. Er schaute noch einmal aus dem Fenster und in die Tiefen des Schlundes.

»Der Kommandant des Heeres wartet im Vorzimmer auf die Freude Eurer Gegenwart, Herr. Er sagt, Ihr hättet ihn gerufen, aber ich wollte Euch nicht stören, falls Ihr noch nicht bereit seid, ihn zu empfangen.«

»Schick ihn herauf.«

Der Kammerherr zögerte. »Seid Ihr sicher, Herr? Er wartet gern, falls seine Gegenwart im Augenblick eine Zumutung für Euch ist. Kommandant Fhremus will Euch keineswegs bei Eurer Arbeit stören.«

Talquist lächelte. »Er stört überhaupt nicht«, sagte er, während er sich der Treppe zuwandte. »Er unterbricht mich bei gar nichts. Ich habe nur die Zeit totgeschlagen.«

Weit entfernt, auf der anderen Seite der Krevensfelder, hörte die Seherin der Zukunft tief in ihrem verfallenden Tempel voller plätschernder Springbrunnen und verrottender Wandteppiche auf zu weinen.

Mehr als fünf Monate hatte sie ohne Unterbrechung gejammert und ihren Wahnsinn herausgeheult. Die Pilger, die anfangs noch gelegentlich ihren Rat gesucht hatten, kamen schon lange nicht mehr zu ihrer großen geschnitzten Tür, und keine Goldmünzen lagen mehr im Spendenkästchen. Sogar die Wachen waren gegangen, denn sie hatten die albtraumhaften Laute nicht länger ertragen.

Nun, da der Mord geschehen war, den sie vorhergesehen hatte, und die Existenz ihrer Schwester vergessen war, zerstreuten sich die Wolken in ihrem Verstand. Langsam erhob sich Manwyn auf der schaukelnden Plattform über der tiefen Quelle in ihrem Tempeclass="underline" Ihr Blick kehrte zum Himmel zurück, der auf die Kuppel über ihr gemalt war.

Und leise sang sie sich wieder ein Lied des Wahnsinns vor.

20

Haguefort, Navarne

Der Kommandant des Stoßtrupps der Zweiten Bergwacht brachte sein Pferd behutsam zum Stehen und bedeutete den anderen Soldaten, sich hinter ihn zu scharen. Der Rest der Kohorte suchte Unterschlupf an der anderen Seite der großen Mauer, die Haguefort umgab. Das einzige Geräusch war das gelegentliche Schnauben der Tiere in der kalten Luft. Mit einem Kopfnicken befahl der Kommandant dem Soldaten Mardel, einem seiner lebhafteren Leutnants, abzusitzen und für weitere Instruktionen zu ihm zu kommen.

Der junge Soldat gehorchte, warf die Zügel einem Gefährten zu und trat vor.

Der Kommandant beugte sich zu ihm herunter und sagte leise: »Klettere über die Mauer und öffne uns das Tor. Wir werden an der Mauer entlangreiten bis zu der Stelle, die unbewacht ist, und uns dann zum gegenüberliegenden Eingang begeben. Lass dir Zeit. Den Rest kennst du.«

Mardel nickte, salutierte und lief leise zu der Mauer. Während er sich ihr näherte, erkannte er, dass der Kommandant eine sehr geeignete Stelle ausgesucht hatte. Obwohl sich alle zwanzig Fuß Wachttürme über die Mauer erhoben, war diese Seite anscheinend kaum bewacht.