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Er erhob sich und schlenderte in die hinteren Zimmer seiner Gemächer. Der Kommandant sprang auf die Beine und folgte seinem Herrscher. Er ließ sein Glas auf dem reich verzierten Tisch zurück, wo die Neige am Boden das Licht der untergehenden Sonne einfing und wie ein Fleck aus getrocknetem Blut aufleuchtete.

22

Es überraschte Fhremus nicht sonderlich, als er erfuhr, dass von den Gemächern des Regenten eine Menge Kammern und Tunnel abgingen. Die Dynastie der Dunklen Erde und die Dynastie der Verbotenen Berge vor ihr, die Sorbold insgesamt mehr als sieben Jahrhunderte regiert hatten, hatten in Jierna Tal so viele Geheimnisse und Fluchtwege eingebaut wie im ganzen Rest des Reiches. Zuzeiten der Herrscherin Leitha war ihm bisweilen der Zugang zu solch verborgenen Orten gewährt worden, doch diese hier, die von ihrem ehemaligen Schlafgemach ausgingen, hatte er noch nie gesehen.

Er machte eine gelassene Miene, als die Wandbehänge hintereinander beiseite gezogen wurden und immer neue, immer stärkere Metalltüren zum Vorschein kamen, jede mit einem verzwickteren Verschlussmechanismus als die vorige. Was immer der Herrscher in seinen Gemächern weggesperrt hatte, war entweder besonders wertvoll oder besonders gefährlich, mutmaßte Fhremus. Zumindest war es etwas, das nur ausgewählte Personen zu sehen bekamen. Er war sich nicht sicher, ob er sich geehrt oder bedroht fühlen sollte.

Als er die Kammer hinter der letzten Tür betrat, entschied er sich für beide Regungen gleichzeitig.

Fhremus hatte von seinen Truppen genug gehört und erkannte sofort das, was er nun vor sich sah. Dennoch dauerte es eine Weile, bis er die Verbindung zwischen den Geschichten des Grauens, die man ihm erzählt hatte, und dem herstellen konnte, was er nun in den Gemächern des Herrschers zu Gesicht bekam.

Talquist setzte sein Glas auf einem Beistelltisch ab, zog einen schweren Samtvorhang zurück und enthüllte einen Alkoven in einer Ecke des Zimmers.

Darin stand aus eigener Kraft eine gewaltige Statue aus vielfarbigem Stein. Grüne, zinnoberrote und purpurfarbene Adern liefen durch etwas, das wie feuchter Lehm aussah, der an den Rändern getrocknet war und die Farbe von Sand angenommen hatte. Es war die grobe Statue eines Soldaten mit einfachem Gewand; seine eine Hand war ungestalt, als ob ihm ein Werkzeug oder eine Waffe entrissen worden sei. Die Gesichtszüge und das Haar waren gleichermaßen grob herausgearbeitet, und die Gestalt war von einem gepanzerten Helm gekrönt, dessen Stil auf die eingeborenen Völker des Kontinents hinwies, die Sorbold vor Beginn der Geschichtsschreibung und vor der erleuchteten cymrischen Epoche bewohnt hatten, als die meisten Berichte und Chroniken der Welt auf großen Pergamentrollen niedergeschrieben und in Bibliotheken aufbewahrt worden waren.

Bis zum Scheitel maß die Statue etwa zehn Fuß. Ihre Arme und Beine waren muskulös und dick und wiesen aufgrund der rohen Arbeit außer Knien und Ellbogen keine Merkmale normaler menschlicher Gliedmaßen auf. Die auf die Decke gerichteten Augen waren hohl und hatten keine Pupillen, und die Hände waren gegen die Seite gepresst.

Vor nicht langer Zeit hatten Fhremus’ eigene Soldaten ihm mit atemloser Stimme eine solche Statue beschrieben. Sie hatten ihm Geschichten von einem Riesen erzählt, der die Hauptstraße von Jierna’sid entlanggepoltert war. Voller Mordlust hatte er eine Schlachtreihe von Soldaten durchbrochen und sie wie Weizen unter seinen Füßen zermahlen. Er hatte Wagen und Pferdekarren umhergeschleudert, Tore und Barrikaden überwunden und sich schließlich auf den Weg zum Palast von Jierna Tal gemacht.

Nach diesen Berichten hatte sich Fhremus in aller Eile zum Palast begeben und darum gebangt, den Regenten lebend anzutreffen, auch wenn er die Hoffnung darauf, dass Talquist unverletzt war, als nur gering angesehen hatte. Doch er hatte rasch herausgefunden, dass der Schaden in Jierna Tal nur geringfügig und bereits an den meisten Stellen wieder behoben war, einschließlich der Ecke in den Privatgemächern des Herrschers. Und der Herrscher selbst erfreute sich ausgezeichneter Gesundheit, hatte keine offenkundigen Verletzungen erlitten und wirkte keineswegs mitgenommen. Als er Talquist zum ersten Mal nach jenen Berichten wieder gesehen hatte, hatte er sich gefragt, ob diese nicht das Produkt von Halluzinationen gewesen waren.

Bis zu diesem Augenblick.

»Das ist doch nicht, äh, die Statue …«

»Doch, das ist sie«, sagte Talquist gelassen. »Es ist der Titan aus Lebendigem Stein, der vor einer Woche durch die Straßen der Stadt getrampelt ist, Soldaten zerschmettert und alles vernichtet hat, was sich ihm in den Weg stellte. Wunderschön, nicht wahr?«

»Wenn Ihr so meint, Herr«, meinte Fhremus und wusste nicht, was er sonst antworten sollte.

Der zukünftige Herrscher kicherte. »Du musst wenigstens die Handwerkskunst unserer Feinde bewundern, Fhremus, selbst wenn du ihre Absichten nicht gutheißt. Ich muss zugeben, dass ich höchst beunruhigt war, als ich sie vom Balkon aus gesehen habe, denn mir war nicht bekannt, welche Kräfte der Natur bei der Erschaffung dieses Dinges zusammengespielt hatten. Aber zu meiner Zeit als Kaufmann habe ich so manche Seltsamkeiten in den vielen Ländern gesehen, vor allem Waffen in allen Formen und Größen – Gifte, von denen du nie erwarten würdest, dass sie schädlich sind; Klingen, die in weichster Seide verborgen und so unauffällig sind, dass du sie nicht einmal bemerkst, bevor du dich zu Tode blutest; geniale Fallen, die nicht einmal der aufmerksamste Wächter erkennt, bevor er in den Tod stürzt oder unter einem gewaltigen Steinblock begraben wird – und deshalb gibt es nur sehr wenig, das mich wirklich überrascht, Fhremus. Danke dem Schöpfer, dass ich in seiner Gunst stehe und er mich als seinen Gesalbten schützt. Ansonsten wäre Sorbold jetzt wieder führerlos wie noch vor kurzem, als unsere geliebte Herrscherin und der Kronprinz gestorben sind. Wer weiß, vielleicht säßest du dann wieder in einer Versammlung mit den Grafen der Hauptprovinzen, die nur danach trachten, das Reich aufzulösen und die kleineren Länder ihren eigenen einzuverleiben.«

»In der Tat, Herr«, murmelte Fhremus.

»Was glaubst du, wie wurde dieser riesige Steinmörder belebt?«, fragte der Herrscher.

»Ich weiß es wirklich nicht.«

»Dann erlaube mir, dich über die Kenntnisse unserer Feinde aufzuklären«, sagte Talquist in beißendem Tonfall. »Wir haben es nicht nur mit gewöhnlichen Menschen zu tun, Fhremus, mit Menschen wie uns selbst, die wir allein Klugheit, Muskeln und Blut in uns vereinen, mit denen wir unser geliebtes Land verteidigen. Wir stehen gegen eine Allianz, die von Menschen mit heimtückischen Kräften geführt wird. Es sind die Erben der Throne von Gwylliam und Anwyn, und in ihren Adern fließt das Blut der Cymrer und die Macht, welche diese bösartige Rasse einst besaß. Das sind keine reinen Menschen, Fhremus. Die Zeit scheint ihnen nichts anhaben zu können und keine Macht über sie zu besitzen. Viele aus Gwylliams Dynastie leben noch, mehr als tausend Jahre nachdem dieser verfluchte Despot im Kielwasser der Flutwelle seinen Fuß auf unser Land gesetzt und systematisch die Leute auf dem Weg zu dem Ort abgeschlachtet hat, welcher schließlich zu seiner Festung in den Bergen wurde, die heute die Zahnfelsen genannt werden. Außerdem ist der kürzlich eingesetzte Patriarch mit dem cymrischen Herrscher verbündet. Dieser Mann ist in Wahrheit ein Abtrünniger und folgt einer langen Reihe von Männern, die unsere Religion pervertiert haben. Er verneint die reine und heilige Anbetung des Schöpfers, die unsere Vorfahren praktiziert haben, und nennt ihn bei anderen unheiligen Namen wie All-Gott oder Ein-Gott. In den Händen des Patriarchen und seiner Seligpreiser befinden sich alle Elementar-Basiliken und das uranfängliche, in ihnen enthaltene Wissen um die Lebendige Erde, den Wind, das Feuer, das Wasser und das Sternenlicht. Und sein Verbündeter Gwydion von Manosse, der cymrische Herrscher, steckt unter einer Decke mit Tyrian, den Bolglanden, den Nain, Manosse, Gaematria und hat die Oberherrschaft über alle Heere des Mittleren Kontinents. Wie kann man gegen solche Feinde kämpfen?«