Er schaute wieder zu der Öffnung über dem Abgrund. Er riss den Mund weit auf, als ein Schatten daran vorbeiglitt und dann in der Dämmerung verschwand.
»Gütiger All-Gott«, murmelte er.
»Gütiger Schöpfer«, berichtigte Talquist ihn geduldig. »Ich begreife, dass es eine Weile dauern wird, bis du dich daran gewöhnt hast. Mach dir keine Sorgen. Sie üben hier, außer Sichtweite der Stadt, wenn die Sonne sinkt. Es ist das Beste, wenn wir es geheim halten, damit uns das Überraschungselement bleibt. Bist du nicht auch dieser Meinung?«
Fhremus sah noch eine Weile gespannt zu, dann drehte er sich zu dem Herrscher um.
»Ja«, sagte er.
Talquist grinste breit und führte den Kommandanten durch den Tunnel zurück in seine Gemächer.
»Verstehst du nun, welch ein Segen das für Sorbold in seinem Kampf gegen eine Invasion ist?«
»Ja, Herr.«
»Daraus schließe ich, dass du die Schritte gutheißt, Fhremus, die ich unternommen habe, um das Überleben unserer geliebten Nation gegen den Angriff des Bündnisses zu verteidigen?«
Fhremus dachte kurz nach. »Es steht mir nicht zu, Eure Entscheidungen zu billigen oder zu missbilligen, Herr«, sagte er ernst. »Die Waage hat Euch zum nächsten Herrscher über unser Vaterland bestimmt. Ich bin froh, dass Ihr erkannt habt, welche Weisheit darin liegt, Sorbold als geeintes Reich zu erhalten, anstatt es aufzulösen, wie es die Grafen wünschten. Ich bin ein Soldat; ich tue, was mein Herrscher befiehlt.«
»Egal ob du es billigst oder nicht?« Die Frage schwebte dick wie Nebel in der Luft.
Fhremus sog die Luft durch den nassen Leinenschal ein, nahm ihn vom Gesicht und atmete langsam wieder aus.
»Ja«, sagte er.
Talquists Augen funkelten schwarz in dem schwachen Licht.
»Ausgezeichnet«, sagte er. »Aber es ist auf alle Fälle unerlässlich, dass deine Männer und die Familien, die sie zurücklassen, die Bedrohung begreifen, der wir uns gegenübersehen. Wie sagt ihr Soldaten noch, wenn es darum geht, in den Krieg zu ziehen?«
»Der Verteidiger kämpft mit der Stärke von zehn Eroberern.«
»ja«, sagte Talquist sanft. »So ist es.«
»Sie werden es verstehen, Herr«, meinte Fhremus. »Und sie werden bis zum letzten Atemzug kämpfen, um Eure Herrschaft zu sichern.«
Talquist grinste noch breiter.
»Das ist wie Musik in meinen Ohren. Du kannst gehen, Fhremus, aber komm morgen wieder. Wir müssen Pläne schmieden.«
Der Soldat verbeugte sich unbehaglich. »Ja, Herr.« Zum Salut beugte er sich über die Hand des Herrschers, dann verließ er den Raum. Seine Stiefelschritte hallten die Treppe in der Ecke hoch.
Als dieses Geräusch verstummt war, wandte sich Talquist an den Steintitan, der aus den inneren Gemächern hervorgekommen war.
»Ich glaube, er wird seine Sache gut machen, wenigstens zu Anfang, Faron«, sagte er beiläufig. »Danach müssen wir vielleicht einige Veränderungen vornehmen. Meinst du nicht auch?«
Der Steintitan beobachtete den zukünftigen Herrscher einen Moment lang, begab sich wieder in die inneren Gemächer und kam kurz darauf mit einem Gegenstand in seiner riesigen Hand zurück.
Es war eine ovale Schuppe, die am Rand leicht ausgefranst und unregelmäßig geformt war. Viele feine Linien durchzogen sie. In seiner Hand schien sie grau mit einem leichten Stich ins Blaue zu sein, doch als sie das Licht einfing, tanzten alle Farben des Spektrums über ihre rasierklingendünne Oberfläche. In die konvexe Seite war das Abbild eines Auges eingeritzt. Es war deutlich zu sehen und wurde von keinerlei Gewölk überzogen, genau wie das Bild auf der konkaven Seite.
Der Titan hielt die Schale in der Hand und blickte aus dem Balkonfenster. Einen Moment später drehte er sich zu dem Herrscher um und nickte stumm.
Talquist verzog die Lippen zu einem strahlenden Lächeln.
»Gut«, sagte er. »Sehr gut.«
Er stand da und sah zu, wie die Dämmerung zur Nacht wurde und die Sterne im gewaltigen Himmel über Jierna’sid leuchteten.
24
Ashe hatte gehofft, dass er während der Kriegsvorbereitungen, die mit Lärm und Aufruhr infolge der Ankunft der Herzöge sowie einigem Chaos durch die Verlegung eines großen Teils des Haushalts von Haguefort zur Festung der Hohen Warte einhergingen, seine geistige Gesundheit so lange wie möglich aufrecht erhalten könnte. Ablenkung war gut, meinte er; mit etwas Glück würde die schmerzende Abwesenheit von Frau und Kind aus seinem Einflussbereich und der Reichweite seiner Drachensinne durch den Lärm und Kampf, durch tausend Kleinigkeiten und Entscheidungen und eine Menge anderer Zerstreuungen ersetzt werden, die den Drachen in seinem Blut beschäftigt hielten.
Seine Hoffnung hatte nur wenige Augenblicke angedauert – bis das Hufgetrappel in der Nacht verhallt war. Er fühlte das Kreischen eher, als dass er es hörte; es war das Jammern einer Bestie, der etwas aus ihrem Hort gestohlen worden war. Noch tiefer in seinem Innern spürte er, wie etwas seine Seele entzweiriss, die doch erst vor kurzem geheilt war, als er und Rhapsody endlich wieder vereint gewesen waren.
Als die erste Nacht ohne sie hereinbrach, tröstete sich Ashe damit, vor dem Feuer zu sitzen, das ihn an seine Frau erinnerte. Durch den Dunstschleier der Zeit schaute er zurück auf eine andere Welt, auf einen Ort an dem er glücklich gewesen war. Es war die Zeit vor dem Krieg gewesen, vor der Sintflut, ja sogar noch bevor die beiden Bolg sich Rhapsody zugehörig gefühlt und ihn wegen seiner Ehe mit ihr als Eindringling erachtet hatten.
Als er die Augen schloss, sah er sie so, wie sie damals gewesen war, in der Nacht vor ihrem vierzehnten Geburtstag. Sie hatte ein schlichtes Samtkleid getragen, und ihre Brust war mit einem Ansteckbukett aus einfachen Blumen geschmückt gewesen, das ihr Vater ihr gegeben hatte. Damals war sie dünn gewesen und hatte langes, glattes Haar gehabt, das wie eine Welle aus Samt auf ihrem Rücken gelegen hatte. Ashe lächelte, als er sich an ihren ersten Anblick erinnerte, wie sie sich bei dem Vorerntetanz in der Dunkelheit hinter eine Reihe von Fässern gekauert hatte. Bei diesem Ereignis hatte das Volk ihres menschlichen Vaters immer eine Heiratslotterie abgehalten, und traditionell hatten sich die jungen Leute des Dorfes dabei einen Ehegatten ausgesucht.
Wie er damals dorthin gekommen war, wusste er selbst ein Jahrtausend später noch immer nicht. Er war selbst erst vierzehn gewesen; ein unbeholfener Heranwachsender, der eines schönen Morgens auf der anderen Seite der Zeit in den Ort spaziert war; inzwischen waren seit Rhapsodys Geburt beinahe eintausendfünfhundert Jahre vergangen. Was dann passiert war, stellte für ihn immer noch ein Rätsel dar. Der Wind hatte aufgefrischt, die Morgenvögel hatten laut gesungen, der Tag war wunderbar gewesen. Ein Tag wie jeder andere.
Und dann hatte sich die Welt gedreht.
Ashe vermochte sich noch immer an das Gefühl der Übelkeit und Schwäche zu erinnern, die ihn überfallen hatten, als er von dem Ort, an dem er sich zuvor befunden hatte, weggebracht und in der Nachmittagssonne auf einer Weide bei Myrfeld abgesetzt worden war, einem einfachen Bauerndorf inmitten der Weiten Marschen im Osten der Insel Serendair. Da er in Gegenwart von Magie und Wesen mit uralten Kräften aufgezogen worden war, hatte er recht schnell die Fassung wiedererlangt und ungefähr feststellen können, wo er sich in der Zeit befand, aber nicht, wie er dorthin gekommen war.
All das hatte ihn zum Vorerntetanz und an die Seite eines Mädchens gebracht, das sich auf der Gasse versteckt hatte, weil es sich nicht durch die althergebrachten Zeremonien verheiraten lassen wollte. Vom ersten Augenblick an war er in sie verliebt gewesen, nicht nur weil sie hübsch gewesen war und bei ihrem Anblick alle Säfte seines jungen Körpers zu kreisen begonnen hatten, sondern weil in ihrer Weigerung, als Leibeigene behandelt zu werden, etwas so Moralisches, Unabhängiges und Kluges gelegen hatte, dass er sie dafür einfach hatte bewundern müssen, noch bevor sie sich miteinander bekannt gemacht hatten.