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Schließlich hatte er genug Mut gefasst, um ihr auf die Schulter zu klopfen und sie zu bitten, mit ihm im Licht, das aus der Halle fiel, zu tanzen. Danach waren sie zu den Wiesen ihrer Familie gegangen, auf denen ein Weidenbaum, den sie sehr geliebt hatte, über einem Bach gestanden hatte. Ashe schloss die Augen noch fester und lauschte der Musik des Wassers in seinem Kopf. Die außergewöhnliche Befähigung, aufgrund seiner Drachennatur jede Einzelheit wahrzunehmen, erlaubte ihm eine sehr genaue Erinnerung. In gewisser Hinsicht war es so als durchlebe er jene Nacht aufs Neue. Er spürte die Kühle der Luft, sah die Helligkeit der Sterne, roch den morgenfrischen Duft von Rhapsodys Haaren und beobachtete das Glimmern in ihren Augen, die immer heller gebrannt hatten, als sie über Dinge geredet hatte, die sie erregten. Es waren unrealistische Träume gewesen, wie sie der Heiratslotterie entkommen, durch die Welt reisen und den Ozean sehen würde, den ihr Großvater als Seemann befahren hatte. Das war etwas gewesen, wonach sie sich sehr gesehnt, das sie aber nie getan hatte. Und vor allem erinnerte er sich daran, wie sie über ihre Träume gesprochen hatte, über Sterne, die aus dem Himmel in ihre Hand gefallen wären und die sie festgehalten hätte, bis ihr dies eines Tages nicht mehr möglich gewesen war. Da hätte sie die Sterne aus der Hand in den Wiesenbach fallen lassen, von wo aus sie sie weit jenseits ihrer Reichweite angeglimmert hätten.

In jenem Moment hatte er sich entschlossen, ihr diese Träume zu erfüllen, sie mit ihrer erregten Zustimmung zu heiraten und von diesem Bauernland wegzuführen, damit sie die Welt sehen konnte. Dafür hatte er zwei Gründe gehabt. Ob er je in seine eigene Zeit würde zurückkehren können, war ihm beinahe gleichgültig gewesen. Welche Kraft ihn auch immer über die Wellen der Zeit an Rhapsodys Seite getragen hatte, hatte ihn in das Zeitalter kurz vor der Sintflut geführt, als gerade der Krieg auszubrechen drohte, der die Insel Serendair auseinander reißen sollte. Sie mussten eiligst aufbrechen, denn sonst würde seine neu entdeckte Seelenverwandte nichts als ein weiteres Opfer in zweien der größten Tragödien der Geschichte werden.

Sie hatte ihn Sam genannt; mit diesem Namen hatte man in ihrem Ort alle unbekannten jungen Männer angesprochen. Er hatte keine Gelegenheit gehabt, ihr seinen richtigen Namen zu nennen; es war ein Kosename, den sie immer noch gebrauchte. Ihre Stimme hallte laut und deutlich in seiner Erinnerung wider.

Sam?

Ja?

Glaubst du, wir werden das Meer sehen? Eines Tages, meine ich.

Er hatte es ihr versprochen und ihr gesagt, er werde sie an jeden Ort bringen, den sie sehen wollte, doch bevor sie ihre Pläne in die Tat hatten umsetzen können, war er durch jene unsichtbaren Hände, die ihn zu ihr gebracht hatten, zurück in seine eigene Zeit geholt worden.

Ashe zuckte in der flackernden Hitze der Flammen zusammen. Der dumpfe Schmerz des Verlusts hatte ihn noch nicht verlassen, obwohl sie schon seit vier Jahren in Körper und Seele vereint waren.

Obwohl er wusste, dass sie ihn auf ewig lieben würde.

Obwohl sie ein Kind miteinander hatten, einen Sohn, den er maßlos liebte und den kennen zu lernen er bisher kaum Gelegenheit gehabt hatte. Er bemühte sich, nicht über diesen besonderen Verlust nachzudenken, denn seine Drachennatur war unberechenbar, und er durfte es nicht riskieren, sich ihr auszusetzen; er litt bereits genug.

Tief in ihm ertönte eine Melodie. Es war ein Lied, das Rhapsody ihm oft vorgesungen hatte, wenn sie abends allein gewesen waren, und es handelte von einem Wanderer. Ihr Großvater hatte es ihr beigebracht, als sie noch ein Kind gewesen war. Als sie mit Ashe in der neuen Welt wieder zusammengetroffen war, war er ein solcher Wanderer gewesen, einsam und voller Schmerz; deshalb hatte es sie an ihn erinnert und an den Baum, unter dem sie sich ineinander verliebt hatten. Ashe stellte sie sich vor, wie sie vor ihm saß, die Harfe oder Konzertina in der Hand, und das wohlklingende Lied mit jener Stimme gesungen hatte, die seine Träume heimsuchte.

Ich ward unter der Weide geboren, Wo mein Vater die Erde bestellt’, Hatt’ zum Kissen das Gras mir erkoren, Als Laken die warmen Lüfte der Welt.
Doch Hinfort! Hinfort! rief der Wind aus dem Westen, Zur Antwort ich alsdann aufbrach, Sucht’ Ehre und Kitzel der Nerven, Welche die steigende Sonn’ mir versprach.
Unter dieser Weide die Liebe ich fand, Eine Liebe, so wahr und so hold, Ich gab mein Herz und schwor meine Treue, Besiegelte sie mit einem Kuss und einem Band aus Gold.
Aber zu den Waffen! Zu den Waffen! rief der Wind aus dem Westen In Treue lief ich davon, Marschierte für König und Land In Schlachten unter der Mittagssonn’.
Oft träumt’ ich von der schönen Weide, Als ich die sieben Meere befuhr, Und von der Maid, die zurück ich gelassen, Und sehnte mich nach ihrer Gegenwart nur.
Doch Dreh um! Dreh um! rief der Wind aus dem Westen, und abermals fuhr mein Schiff davon. Die Küste hinunter, durch die weite Welt Flogen die Segel unter der Sonn’.
Nun liege ich unter der Weide. Nun streife ich nicht mehr umher, Meine Braut und die Erde halten mich fest, Ihre Umarmung verlasse ich nimmermehr.
Wenn Hinfort! Hinfort! der Wind aus dem Westen ruft, Jenseits des Grabes mein freier Geist Der Sonne entgegen, in den Morgen hinein, Jenseits des Himmels, jenseits des Meeres reist.

Sein Drachensinn wurde lebendig, als er ein Prickeln spürte. Er öffnete die Augen.

Seine Frau saß vor dem Feuer. Ihr Lied war zu Ende, und sie lächelte ihn warmherzig an. Seine geschärften Sinne spürten ihre körperliche Gegenwart im Zimmer. Die Luftströmungen brachen sich an einer Gestalt, die schwer und wirklich war, im Gegensatz zu den Träumen und Phantasien, in denen sie nichts als ein Bild in seinem Kopf war, ein Phantom, das mit dem Morgenlicht verschwand. Diese Vision hatte Gewicht und eine Wirklichkeit wie nie zuvor. Ihr Duft, der einfache Geruch von Vanille und Seife, süßen Wiesenblumen und Holzrauch erfüllte seine Nase und führte dazu, dass ihm das Blut in den Schläfen pochte und seine Hände zitterten.

Rhapsody lächelte. Ihre grünen Augen glitzerten und spiegelten das Kaminfeuer wider.

Ashe setzte sich aufrechter in seinem Sessel hin. Zweifellos war sie echt. Das war keine Einbildung, und auch spielten ihm seine Drachensinne keinen Streich. Die Energie ihrer Lebenskraft fuhr über ihn wie Wellen über die See.

Rhapsody, flüsterte er und hatte dabei Angst, das zu zerstören, was entweder ein Wunder oder die Illusion eines verlöschenden Geistes war. Du bist hier.

Im Feuerschein wurde ihr Lächeln noch heller. Ja. Ich bin hier.

Langsam erhob sich Ashe aus dem Sessel und ging vorsichtig zum Feuer. Rhapsody stand ebenfalls auf und streckte ihm zum Willkommensgruß die Arme entgegen.

Er wurde schneller, lief beinahe auf sie zu und nahm sie in die Arme. Er drückte sein Gesicht gegen ihre Halsbeuge und atmete den Duft ihrer Haut ein, vergrub die Lippen in ihrem Haar und schwelgte in ihrer Wirklichkeit, ihrer Festigkeit. Sie war kein Phantom, sondern aus Fleisch und Blut, und in ihrer Brust schlug ein warmes Herz, das gegen sein eigenes klopfte.

Ein entsetztes Keuchen zerriss die Luft.

Der Laut schlug gegen Ashes Stirn wie eine eiskalte Woge. Er lockerte seinen Griff und trat einen Schritt zurück. Sein erschöpfter Verstand versuchte zu verstehen, was hier vor sich ging.