Das Kästchen fühlte sich glatt und kalt in Faedryths schwieligen Händen an. Er starrte weiterhin gedankenverloren auf es herunter, bis Thotan mit Faedryths Adjutanten Therion zurückkehrte, gefolgt von vierzehn seiner vertrauenswürdigsten Soldaten, welche die silbernen Spangen und schwarzen Lederbände von Faedryths persönlichem Regiment trugen und zu zweit eintraten. In den Armen hielten sie etwas, das in Leinen eingewickelt war; es war schwer, groß und hatte regelmäßige Umrisse. An ihren gespannten Gesichtern war deutlich abzulesen, dass ihre Fracht etwas unermesslich Wertvolles und Zerbrechliches war.
Faedryth beobachtete in grimmigem Schweigen, wie die Soldaten ihre Lasten sanft um die Basis des Kristallthrons ablegten und vorsichtig die Seidenbänder lösten, welche um die Tücher geschlungen waren. Das flackernde Fackellicht zuckte plötzlich rubinrot auf, als es auf den ersten der Gegenstände fiel. Es war ein großes, glatt geschliffenes Stück farbigen Glases mit einer Dicta und Breite von Faedryths Hand. Das Stück hatte an der Außenseite einen vollkommen abgerundeten Rand von etwa einem Siebtel des Kreisradius und lief wie ein großer Keil in einen kleineren, ähnlichen Bogen aus den Therions Soldaten nun an der Basis von Faedryths Thron aufstellten.
»Vorsichtig, ihr Hornochsen«, murmelte der König leise. Er packte das Kästchen aus schwarzem Elfenbein noch fester, als auch die nächsten beiden Teile enthüllt wurden, bei denen es sich um ähnliche Glasstücke in den Farben Zitronengelb und Feueropal-Orange handelte. Einen Augenblick später tauchte ein smaragdgrünes Stück aus den Laken auf; es war so tiefgrün wie der Ozean, den die meisten Nain nie in ihrem Leben sahen. Als es vorsichtig an Ort und Stelle eingepasst war, kamen ein großes, glänzendes Stück, himmelblau wie ein Topas klarster Färbung, und schließlich ein indigoblauer Bogen zum Vorschein, der nicht so groß wie die anderen war, denn sein Platz im Spektrum war kleiner als der der sechs Hauptfarben. Bis das schwache Fackellicht darauf fiel, schien das kleinere Stück beinahe schwarz zu sein, doch im Flackerschein glomm die reiche Saphirtönung still und unaufdringlich und wurde wieder zu einem Teil der Dunkelheit, als das Licht weiterwanderte.
Schließlich wurde mit größter Vorsicht das letzte Stück aus den Leinentüchern gewickelt. Der violette Bogen war vermutlich der schönste von allen; an seiner Amethysttönung war etwas schmerzhaft Klares, etwas Frisches wie der Beginn eines neuen Tages nach einer finsteren Nacht, wie das Aufklaren eines von Rauch erfüllten Himmels nach der Schlacht. Als es zum Vorschein kam, veränderte sich der Geruch im Raum. Die dicke, abgestandene Höhlenluft machte einer frischen Brise Platz, die dem König in die Augen stach und angesichts der melancholischen Erinnerung die Tränen in sie trieb. Die Soldaten, die auf die gleiche Weise berührt waren, gingen beinahe ehrerbietig in die Hocke. Das letzte Stück blieb für den Augenblick auf dem Boden liegen; alles wartete auf Faedryths Befehl.
Der Nain-König schaute wieder herunter auf das Kästchen in seinen Händen. Die Spitze seines Bartes, dessen strahlendes Gold sich an den Enden wie sein Haupthaar in Platin verwandelte, fuhr über den schwarzen Elfenbeindeckel. In der Berührung des toten Haares mit dem Kästchen lag etwas Sonderbares; schwarzes Elfenbein war der seltenste aller Steine. Er wurde an den erstorbenen Stellen in der Erde geerntet und nicht von lebenden Tieren, wie es bei gewöhnlichem Elfenbein der Fall war. Die Stellen, an der er abgebaut wurde, waren Orte vollkommener Verödung, wo die Magie nicht mehr webte oder die Erde ohne jede Hoffnung auf Wiederherstellung versengt worden war und die ihr eigene Fähigkeit verloren hatte, sich selbst zu heilen, im Gegensatz zu den Wunden aus einem Buschfeuer oder einer Flut, wo der Asche oder dem Schlamm neues Leben entsprang. Schwarzes Elfenbein war die Verkörperung einer Leere jenseits des Todes – der vollkommenen Abwesenheit allen Lebens –, und deshalb war alles, was von einem Behältnis aus diesem Material eingeschlossen wurde, von absoluter, schwingender Finsternis umgeben und für alle Blicke unsichtbar, selbst für jene der fähigsten Hellseher.
Bereits die Berührung mit diesem Kästchen stach Faedryth bis in die Seele.
Und das Wissen – oder eher das Nichtwissen – darum, was sich darin befand, setzte seine Seele in Flammen.
»Ist meine Tochter hier?«, fragte er knapp.
»Jawohl«, antwortete Thotan. »Und auch alle anderen überlebenden Generationen Eurer Linie.«
Faedryth schnaubte. »Schickt meine Tochter herein« ,sagte er und lief auf dem dunklen Boden hin und her. »Der Rest ist zu alt.« Thotan nickte. Wie Faedryth war auch er ein Cymrer der Ersten Generation, einer der mehr als hunderttausend ursprünglichen Flüchtlinge von der untergegangenen Insel Serendair, und daher war er ebenfalls scheinbar unsterblich. Wie Faedryth, so hatte auch er gesehen, wie die Unsterblichkeit langsam seine eigene Familie verließ, sodass er selbst zwar noch dieselbe jungendliche Kraft besaß wie an dem Tag vor vierzehn Jahrhunderten, als er das Schiff betreten hatte, das ihn in Sicherheit gebracht hatte, aber seine Kinder waren gealtert, als ob sie zu der Generation seiner Eltern gehörten, und seine Enkel alterten gar noch schneller. Seine fernsten Nachkommen waren bereits alt geworden und gestorben, und er selbst war immer noch so wie früher, as ob er in der Zeit erstarrt wäre.
Die vergoldete Tür wurde erneut geöffnet, und Gyllian betrat den Raum. Wie ihr Vater hatte sie weizenfarbenes Haar, doch während seines in den Spitzen das erste Silber zeigte, war ihres mit Ausnahme dünnster goldener Strähnen ganz von jener metallischen Farbe. Trotzdem hielt sie sich gut für ihr Alter. Sie trat an die Seite ihres Vaters, und ihr Gesicht furchte sich in stiller Besorgnis.
Faedryth streckte die Hand aus und legte sie seiner Tochter kurz auf die Wange. Jemanden, der so alt und weise war, auf eine solch väterliche Weise zu berühren, war ihm in seiner ewigen Jugend immer seltsam vorgekommen, doch in den wenigen Augenblicken der Zärtlichkeit, die er sich erlaubte, war diese immer auf Gyllian gerichtet.
»Der Lichtfänger ist bereit«, sagte er gelassen. Es waren Worte, die er schon bei früheren Gelegenheiten zu ihr gesprochen hatte. »Bist du es auch, falls es so weit sein sollte?«
Seine Tochter nickte; sie schwieg noch immer.
Faedryth atmete tief durch. »Also gut. Stellt euch an der Tür auf. Sag dem Scharfschützen, er soll sich bereithalten.« Er nickte Thotan zu; der Minenminister verneigte sich rasch und verließ den Raum, gefolgt von Therion und den Soldaten. Der Nain-König erlaubte es sich, seine Hand noch einen Moment auf der altersweißen Wange seiner Tochter ruhen zu lassen, dann ließ er sie sinken.
»In Ordnung«, sagte er barsch zu den Geistern und Erinnerungen, die unsichtbar in der Luft um ihn herum schwebten. »Fangen wir an.«
»Willst du nicht erst noch ein letztes Mal mit Garson sprechen?«, fragte Gyllian; ihre Miene war ruhig und ausdruckslos wie immer. Die Nain-Prinzessin hatte sich ihren Ruf in den Schlachten des Großen Cymrischen Krieges erworben. Der Rauch jener Schlachten hatte sie wie Leder gegerbt, und an den endlosen Lagerfeuern war sie zu einer Frau mit einem stählernen Rückgrat geworden. Trotzdem war ihr Rat wohl abgewogen und vernünftig, und immer versuchte sie zunächst, andere Mittel auszuschöpfen, bevor sie jene Türen aufstieß, die möglicherweise nicht mehr geschlossen werden konnten.