Faedryth wirbelte herum und starrte Gyllian an.
»Glaubst du, dass wir noch eine andere Möglichkeit haben?«, wollte er wissen.
Die Prinzessin trat langsam an die Seite ihres Vaters und küsste ihn sanft auf die Wange.
»Nein«, sagte sie nur. Dann verneigte sie sich leicht und verließ den Raum, wobei sie einen raschen Blick auf den Scharfschützen warf, aber nicht zu Faedryth zurückschaute.
»Triff die erforderlichen Vorbereitungen und beeile dich damit«, befahl Faedryth dem Schützen. Der Mann nickte, stellte den Ständer auf, legte die Armbrust darauf und zielte auf den Kristallthron.
»Halte dich bereit«, sagte der König zu Garson.
»Ich bin bereit«, erwiderte Garson steif. »Werden wir das blaue Spektrum benutzen?«
Faedryth seufzte erneut auf. Die blaue Kraft des Spektrums war die einzige, mit der er vertraut war. Er kannte zwar nicht die Worte der alten Sprache, die von Gwylliam gebraucht worden war, aber er glaubte sich zu erinnern, dass sie mit »Wolkenrufer« oder »Wolkenjäger« übersetzt wurden. Er wusste, dass die Kraft des elementaren Blaus im Hellsehen lag, also im Blick über große Entfernungen oder auf verborgene Orte, und wenn man die Kraft umdrehte, konnte man sich vor neugierigen Augen schützen, die auf einen selbst blicken mochten.
Erst einmal hatte er eine der anderen Farben eingesetzt. Als der Geschmolzene Fluss aus Magma, der sich unablässig an der Grenze seines Landes dahinwälzte, vor zwei Jahrhunderten gestockt hatte, hatte Faedryths Weiser ihm geraten, die orangefarbene Macht des Spektrums einzusetzen, den Feuerstarter, um die Lava unter der Aschenkuppel hervorzuholen. Wenn der Fluss nicht als Schutzwall zwischen seinem Reich und dem Land der benachbarten Wyrm gedient hätte und seine Lava nicht wesentlich für das Überleben des Tiefen Königreichs im Winter gewesen wäre, dann hätte er diesen Versuch niemals gewagt. Die daraus sich ergebende Explosion und Zerstörung hatte ihn überzeugt, so etwas nie wieder zu tun.
Er nickte Garson knapp zu und versuchte die Bilder der Verwüstung aus seinen Gedanken zu verbannen.
Ohne ein weiteres Wort begab er sich zu den schimmernden Kristallen, trat vorsichtig in die Öffnung zwischen den zusammengesetzten Stücken aus farbigem Glas, die einen Spektralkreis um die Basis des Throns bildeten, und ließ sich langsam auf dem Sitz nieder. Kurz schaute er noch einmal auf das Kästchen in seinen Händen, dann sah er Garson an, seinen offiziellen Zeugen, der den König hinter dem Schützen starr beobachtete. Dieser hatte die Armbrust auf das Herz des Königs gerichtet.
»Schließ den Kreis«, befahl Faedryth. Seine Stimme war tief und klangvoll und zeigte keine Anzeichen der Unsicherheit, die er noch einen Augenblick zuvor verspürt hatte.
Garson begab sich schnell zum Mittelpunkt der riesigen, dunklen Halle und kniete vor den Füßen des Königs nieder. Faedryth segnete ihn ungeduldig; Garson stand wieder auf und verließ den Kreis aus farbigem Glas, dann nahm er vorsichtig das letzte Stück auf, das die Farbe reinsten Amethysts hatte, und setzte es sanft an seinen Platz. Nun war der Kreis geschlossen.
Während der König seinen Botschafter dabei beobachtete, wie er den violetten Bogen einpasste, dachte er plötzlich an Garsons Urgroßvater, Gar ben Sardonyx, der ihm geholfen hatte, vor vielen Jahrhunderten genau dieses Glas im Ofen zu brennen. Er versuchte, seinen Geist gegen die Flut der Erinnerungen abzuschirmen, aber es war unmöglich. Die Macht des Thrones schlief zwar noch, aber sie lebte und öffnete lange verschlossene Orte in seinen Gedanken, egal wie sehr er sie verriegelt und gesichert hatte.
Die Erinnerungen waren schmerzhaft; sie waren Säureflecken in den Winkeln seines Gehirns. Er war der Erbauer des ersten Lichtfängers gewesen, desjenigen im nun zerstörten Turm des Bolg-Königs, und er hatte ihn auf Anweisung seines Herrn und Freundes Gwylliam errichtet, doch er hatte mit ansehen müssen, wie seine Macht von diesem Herrn und Freund im Verlauf eines langen, blutigen und sinnlosen Krieges missbraucht und die eigentliche Mission in ihr Gegenteil verkehrt worden war. Faedryth hatte sich von Gwylliam und jenen, die ihm gefolgt waren, abgewandt. Er hatte sein Schwert im Großen Gerichtshof angewidert von sich geworfen, den Ort verlassen und war zu den Fernen Bergen und in sein Tiefes Königreich zurückgekehrt und dort geblieben, bis er vor kurzem von der cymrischen Herrin gerufen und gebeten worden war, die Nain zum Besten des Kontinents in das Bündnis einzubringen. Gegen seinen Willen hatte er zugestimmt. Als er nun inmitten eines der Wunder dieser Welt und über einer Quelle ihrer uranfänglichen Macht saß, fragte er sich, ob er nicht einen schrecklichen Fehler begangen hatte.
Als Garson das Stück nun an seinen Platz rückte, dachte Faedryth trocken daran, wie er Gwylliams Machtdurst verdammt hatte. Er hatte alle Pläne und Farbmuster zurückgelassen und sich von allem losgesagt, was er für den Visionär des großen Reiches getan hatte, doch in seinem Höhlenreich hatte er andauernd über den Regenbogen aus Glas nachgedacht, der die Kraft des Lebens selbst zu kanalisieren vermochte.
Die Gedanken, die ihn zuerst in jenen lange vergangenen Tagen geplagt hatten, suchten ihn von da an immer wieder heim. Sie waren wie dämonisches Flüstern in seinen Ohren; die Erinnerung an das farbige Glas sprach in seinen Träumen zu ihm und erinnerte ihn daran, dass das Wissen um diese Dinge flüchtig war und er sich beeilen musste, wenn er den Apparat neu errichten wollte Sogar er hatte einen detaillierten Plan benötigt, als er Gwylliams ursprünglichen Lichtfänger gebaut hatte. Dabei hatte es sich um eine Reihe von Zeichnungen gehandelt, die von dem größten Benenner Cymrias erstellt worden und unmöglich im Gedächtnis zu behalten waren. Während des Projekts hatte er jeden Tag diesen Benenner aufgesucht, und jeden Morgen hatte er die Pläne angestarrt, als sähe er sie zum ersten Mal, er, der Erbauer einer der größten Bergstädte in der ganzen Welt, der Mann mit einem unglaublich guten Erinnerungsvermögen, der die vorausschauenden Ideen des Visionärs in die Tat umgesetzt hatte.
Und nun konnte er sich kaum noch daran erinnern, was auf den Zeichnungen zu sehen gewesen war.
Weil er in der Bibliothek von Canrif die gebrannten Glasmuster mit den genauen Farbtönen des Spektrums zurückgelassen hatte, die zum Funktionieren des Apparats unerlässlich waren, besaß er nichts, womit er zukünftige Glasstücke vergleichen konnte. Er hatte sich lediglich noch daran erinnert, dass jedes der Glasstücke in der Kuppel auf dem Gipfel des Gurgus von derselben Farbe gewesen war, die auch die verschiedenen Edelsteine in ihrer reinsten Form hatten.
Und in seinem Königreich mangelte es nicht an Edelsteinen, die er zum Vergleich heranziehen konnte.
So hatte er das Glasspektrum in einem einfachen Kreis wiederhergestellt, während die Stimmen in seinem Kopf bei jedem Schritt aufgeschrien und ihn vorwärts gedrängt hatten – beim Gießen, Färben, Kühlen, beim Polieren des Kristallthrones –, und sie waren erst vollkommen und beinahe zufrieden verstummt, als der Lichtfänger schließlich fertig gestellt war.
Nun also besaß er einen eigenen, auch wenn dieser viel kleiner war und nur äußerst selten eingesetzt wurde – nicht mehr als fünf Mal während der letzten vier Jahrhunderte. Das Einzige, was er noch mehr fürchtete als den Einsatz dieser Maschine, war der Verlust ihrer Macht.
Die dunkle, melodische Stimme der Erde selbst summte um ihn herum und unterbrach seine Gedanken. Der Kreis war vollständig.
»Öffne den Schacht«, befahl Faedryth mit zusammengebissenen Zähnen.
Der Scharfschütze senkte das Visier seines Helms, um die Augen zu schützen.
Garson packte den Hebel, der von den niedrigeren Stalagmiten des Kristallthrones verdeckt wurde, und zog ihn auf sich zu, bis er sich in einer Linie mit dem blauen Bogen befand. Dann wich er zurück und schirmte die Augen ab, als sich eine verborgene Steinplatte unter dem Thron zur Seite und in den Fels hineinbewegte und das Licht einer Flammenquelle enthüllte, über welcher sich der Kristall gebildet hatte. Es war ein Schacht hinab in das Feuer, das Tausende von Meilen tief unter der Erdkruste im Herzen der Welt brannte. Selbst wenn man die Hände vor die Augen hielt, blendete das Licht.