Die pulsierenden Flammen aus den Tiefen der Erde warfen Blitze aus heißem blauem Licht in die Große Halle, erhellten die ferne Decke, tanzten auf den Stalaktiten, spuckten und zischten im Einklang mit dem Feuer unter dem gewaltigen Kristall und ließen ihn wie einen in der Finsternis verborgenen Stern aufleuchten. Das Strahlen umgab den Kristallthron und den Nain-König und verlieh beiden die Farbe eines wolkenlosen Himmels an einem Sommertag in der Oberwelt. Es war eine so reine und klare Farbe, dass sie Garson durch den Schild seiner Finger in die Augen stach.
Faedryth atmete flach und zwang sein rasendes Herz langsamer zu schlagen. Die Macht des Lichtfängers schien ihn durchscheinend zu machen. Nun öffnete er das schwarze Elfenbeinkästchen.
Zuerst sah er nichts, und Panik prickelte am Rande seines Bewusstseins. Als er den Inhalt des Kästchens zum ersten Mal untersucht hatte, war dieser brüchig, ja beinahe gasförmig gewesen, und in der blendend blauen Helligkeit des Kristallthrones, den das Feuer aus dem Erdmittelpunkt von unten anleuchtete, war der Inhalt fast unsichtbar und hielt sich in den Schatten.
Faedryth hielt das Kästchen schräg, bis das, was sich darin befand, das tosende Licht einfing. Als wäre es ein lebendes Wesen, brummte das Licht in den Ecken des Kästchens, stöberte dessen Inhalt auf, fing ihn, erhellte ihn, gab ihm Farbe und Umriss.
Zuerst war es kaum mehr als ein flüchtiges Glimmen, staubig und wechselhaft, veränderlich wie das Sommersonnenlicht, das durch eine Fensterscheibe fiel. Der Nain-König griff sanft in das Kästchen und hob einen der Fetzen in das blaue Strahlen, das um ihn herum pulsierte.
Um seinen Finger gewickelt war ein Schnipsel, der wie durchsichtiges Pergament wirkte, aber er war hauchdünn und altersgelb. Es schien ein künstlich geschaffenes Ding zu sein, teils durchscheinend wie ein Edelstein, teils dünn wie feine Gaze. Faedryth hatte nie etwas Vergleichbares gesehen, nicht in den ganzen sechzehnhundert Jahren seines Lebens und nicht auf beiden Kontinenten, genau wie seine Ratgeber, denen er es besorgt gezeigt hatte.
Dass der Ort, an dem man es gefunden hatte, überhaupt entdeckt worden war, grenzte schon an ein Wunder, denn er befand sich in den tiefsten Bereichen der Kristallminen, wo die diamantartigen Formationen angeblich von den Sternen in Gestalt von Meteoriten auf die Erde gekommen waren und unter unabsehbaren Tonnen uralten Granits verborgen lagen. Es hatte Tausende von Jahren gedauert, bis die Nain diese Mine angestochen hatten. Dass etwas den Druck und die Kälte des Kristallbetts überleben konnte, war vollkommen undenkbar, doch hier, zwischen seinen Fingern befand sich ein Fetzen aus zartestem Material, zerbrechlich und sich verändernd bei jedem Atemzug, den Faedryth tat. Er hielt nichts von Magie und misstraute den meisten, die sie ausübten und Wörter, Lieder oder Schwingungen beeinflussten, um auf diese Weise die Welt zu verändern, doch selbst ein Skeptiker und Ungläubiger wie er empfand unweigerlich Ehrfurcht und Entsetzen in der Gegenwart dieses Dings.
Soweit er wusste, war es etwas, das sonst nirgendwo auf der bekannten Welt existierte.
Und aus diesem Grund musste er unbedingt wissen, worum es sich dabei handelte.
»Ganz«, murmelte er.
Garson tastete nach dem Hebel und zog mit aller Kraft daran, während das blendende blaue Licht hinter seine geschlossenen Lider floss.
Die doppelte Metallscheibe unter dem Thron, die Faedryths Schmiede vor vierhundert Jahren in das Fundament des gewaltigen Kristalls eingelassen hatten, schwang wieder an ihren Platz und bündelte das Licht aus der Flammenquelle im Mittelpunkt des blauen Bogens. Der Kristall, der König und der gesamte Raum hinter ihm wurden in ein noch intensiveres, reineres und feineres blaues Licht gehüllt, in eine heilige, elementare Farbe aus dem Mittelpunkt des Spektrums.
Die Kristallformation sang unter einer uranfänglichen Schwingung, unter der klarsten Note, die für Garson oder den Scharfschützen unhörbar war, doch Faedryth vernahm sie in seiner Seele und spürte sie durch sein Blut klingen. Er öffnete die Augen und sah nicht nur die Finsternis des Thronsaals, sondern blickte dahinter auf die Welt um ihn herum, über die Ebene bis zum Horizont, bis zum Rand des Meeres.
Faedryth hielt sich am Thron fest und wusste, was nun kam.
Der Scharfschütze, der es ahnte, zielte mit seiner Armbrust genau auf das Herz des Königs.
Plötzlich hatte Faedryth einen Blick, der alles Vorstellbare überstieg. Es war, als ob er die ganze Welt gleichzeitig sehen könnte, in allen Einzelheiten und in all ihrer Größe. Als ob er von einer Flutwelle überspült würde, ertrank er plötzlich in Wissen, erkannte das Muster jedes Vogelflugs, die Vorboten jedes Sturmes, die Anzahl der Weizenhalme, die sich unter der Sonne neigten, die Herzschläge der ganzen Welt – das alles trieb von allen Seiten auf ihn ein.
Sein Geist war so schnell wie die Sonnenstrahlen und schoss verrückt himmelwärts wie ein abgeschossener Pfeil, dann fiel er plötzlich zur Erde zurück, in der die Tunnel, welche seine eigenen Untertanen gegraben hatten, die Erdkruste wie Gänge in einem Ameisenhaufen durchzogen. Er schwebte über Schatzkammern, über die vulkanische Lava, die im Geschmolzenen Fluss schwamm, über dunkle Schächte aus endloser, anthrazitener Nacht, jagte durch die Wurzeln der Bäume und die Baue Waldtiere, bis er wieder durch die Erdkruste brach und dabei alles in sich aufnahm, was es zu sehen und zu wissen gab.
Er sah alles.
In diesem Augenblick erkannte Faedryth, dass er die Welt wie ein Drache sah und er nun einen Wyrmblick hatte, der alle physikalischen Grenzen sprengte.
Es machte ihm Angst, wie immer.
Mit großer Anstrengung riss Faedryth den inneren Blick von der rasenden Vision fort, indem er den Kopf senkte und auf das zerbrechliche Stück Pergament vor sich schaute. Er wusste, dass sich darauf ein Bild befand, auf das er nur einen kurzen Blick geworfen hatte, als man ihm dieses brüchige, andauernd sich verändernde magische Pergament gebracht hatte. In jenem Moment hatte er farbige Lichter in der Anordnung der Regenbogenfarben gespürt, irgendeine Kraftquelle, ein Licht, das so hell gewesen war wie das aus der Flammenquelle unter ihm. Er hatte angenommen, dass es sich um den wiedererrichteten Lichtfänger auf dem Gipfel des Gurgus handelte. Überdies hatte er damals etwas Seltsames gespürt. Es war das Gefühl gewesen, er könnte die Gedanken einer anderen Person lesen, und es war ihm so erschienen, als ob der Bolg-König in diesen Gedanken gegenwärtig war. Für einen Mann, der sich von Magie und Schwingungslehren fernhielt und dessen Vergnügen Ingenieurskunst, Minenbau, das Schmelzen von Eisen und das Graben von Tunneln war, stellte das Gefühl, die Gedanken eines anderen zu lesen, eine außerordentlich beunruhigende Erfahrung dar, insbesondere wenn derjenige, um dessen Gedanken es sich handelte, ihm unbekannt und vermutlich schon lange tot war.
Mit ungeheuren Schwierigkeiten blendete er die Unmenge von Bildern aus, die vor ihm herumwirbelten und hielt sich das Bruchstück im klaren blauen Licht vor die Augen.
Er hatte das Bild schon einmal gesehen. Zunächst war es nicht mehr als ein verschwommener Fleck, wurde dann aber schnell zu einem deutlichen Bild, das in all seiner Schärfe schmerzhaft war. Trotz seiner vollkommenen Deutlichkeit ergab es kaum einen Sinn für Faedryth. Seine Augen schmerzten und drohten zu zerplatzen.
Es war ihm, als stünde er an dem Ort, den das Bild zeigte. Es war ein vertrauter dunkler Gang, der irgendwo innerhalb seiner eigenen Berge hätte liegen können. Aufgrund der Dünnheit und Maserung des Steins erkannte Faedryth, dass er sich in einem Berggipfel befand. Am Ende des Tunnels, eine Armeslänge entfernt, erkannte er eine Öffnung, hinter der so etwas wie ein Laboratorium inmitten einer großen, durchsichtigen Kugel zu sein schien, die in der offenen Dunkelheit des oberweltlichen Himmels schwebte. Die farbigen Lichterscheinungen, die er gesehen und fälschlich für den Lichtfänger des Bolg-Königs gehalten hatte, waren in Wirklichkeit gleißende Lichter im Innern der Kuppel, die in gleichförmigen Reihen zu Platten zusammengesetzt waren, welche den durchscheinenden Raum umkreisten. Hinter diesen Platten befand sich so etwas wie ein Tisch, und in der waagerechten Oberfläche war eine Tür zu erkennen, durch die helles Licht wie das aus der Flammenquelle leckte.