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Hinter den klaren Wänden der Kugel sah er die Welt tief unter sich; sie brannte am Horizont, während Feuer über die Ränder kroch und sich über die Kontinente ausbreitete, die er von den Landkarten her kannte.

So verblüffend und beängstigend diese Bilder auch waren, sie verblassten doch im Vergleich zu dem, was sich zwischen ihm und der Glaskugel befand.

In der Luft vor ihm schwebte ein Wesen, einem Menschen gleich, mit Merkmalen verschiedener Rassen und einer scheinbaren Jugend, mit Ausnahme der Augen, blauer Augen, die so tief wie das Meer waren und senkrechte Pupillen hatten. In diesen Augen lag die Weisheit von Jahrtausenden und auch der dazugehörige Schmerz.

Seine Haut war durchscheinend, elastisch und veränderte sich mit jedem Luftzug, der an ihr vorbei oder durch sie hindurchfloss. Der Mann erglühte in demselben Licht wie der Kristallthron, besonders sein Haar, dessen Locken aus strahlendem Gold beinahe in Flammen zu stehen schienen. Und trotz seiner wissenden Augen und dem gelassenen Gesichtsausdruck verrieten seine zusammengebissenen Zähne zitternde Aufregung. Er starrte Faedryth an, als sehe er ihn zum letzten Mal. Sein Mund bewegte sich und bildete Worte. Faedryth hörte sie nicht mit seinen Ohren, sondern eher innerlich; es war, als schwängen sie in seiner eigenen Kehle.

Werde ich sterben?

Faedryth spürte, wie sich seine brennenden Augen mit Tränen füllten, die nicht die seinen waren; er spürte, wie ihm Kehle und Brust vor unbegreiflichem Kummer zusammengedrückt wurden. Dann hörte er seine eigene Stimme, die wie losgelöst von ihm erklang. Er hörte sich selbst husten und dann Worte aussprechen, in denen ein seltsamer Trost mitschwang.

Kann man den Tod erleiden, wenn man nicht wirklich lebt? Wie der Rest der Welt, so hast auch du nichts zu verlieren.

Das durchscheinende Wesen vor ihm nickte und wandte sich ab. Faedryth wurde plötzlich von einem Gefühl der Trauer und des Verlusts ergriffen, das ihm die Seele zerriss. Er spürte, wie er die Hand nach dem Jungen ausstreckte, und musste zusehen, wie er in der Dunkelheit verblasste.

Und dann, als sollte betont werden, dass er die Erinnerung eines anderen durchlebte, war er plötzlich von weiteren Gedanken umgeben. Er gewann den Eindruck, als wären es die des Bolg-Königs, an den er sich beim ersten Anblick des Pergamentfetzens erinnert hatte. Ein letzter Gedanke verblieb bei ihm, dem die Stimme des durchscheinenden jungen Mannes Ausdruck verlieh.

Vergib mir. An meiner Stelle hättest du wahrscheinlich dasselbe getan. Und wenn du die Wahl gehabt hättest, dann hättest du es sogar so gewollt.

Er wusste nicht, warum, aber er war sich sicher, dass der seltsame Jüngling mit dem Mörderkönig sprach.

Überwältigt und ohne den geringsten Hinweis auf die Bedeutung dessen, was er beobachtet hatte, drohte Faedryths Verstand zu zerfallen. Schlimmer noch, tief in ihm spürte er durch den Lebendigen Stein des Kristallthrones eine andere Erschütterung, atonal, körperlich und leicht, kaum wahrnehmbar.

Es war, als ob sich die Erde schüttelte und schlafende Teile von ihr aufwachten.

Entsetzen verzehrte ihn, als die dahinjagenden Visionen zurückkehrten, denn diesmal war es, als ob er in der Dunkelheit auf sein eigenes Reich blickte und sein Standort sehr weit entfernt wäre, aber rasch näher käme.

Er suchte nach sich selbst mit derselben Deutlichkeit, die er vorhin erfahren hatte.

In diesem Augenblick wusste der Nain-König, was er getan hatte.

Er sah das, was ein Drache sah, denn das, was er mit der elementaren Macht der Farbe heraufbeschworen hatte, war der Blick des Drachen.

Der innere Blick eines blinden Wyrms, der schon seit langem in den Eingeweiden der Erde schlief.

Das älteste Schlafende Kind, das angeblich einen großen Teil der Erdmasse ausmachte. Der Drache Witheragh, der ihm einst dieses Geheimnis zugeflüstert hatte, hatte ihn vor einer Prophezeiung gewarnt, nach welcher das Schlafende Kind eines Tages erwachen würde.

Und es würde nach seinem langen Schlaf, der zum Anbeginn der Welt angefangen hatte, vollkommen ausgehungert sein.

Und er, Faedryth, holte es gerade aus seinem Schlummer und richtete seinen Blick auf Faedryths eigenes Königreich.

Ein hohler Schrei quoll aus Faedryths Kehle. Es war ein Kriegsschrei, den er in seinem Leben schon viele Male ausgestoßen hatte. Mit letzter Kraft erhob er sich von dem Kristallthron und spürte, wie er um viele Jahre alterte, als er durch die Säulen aus elementarem blauem Licht brach, zu Boden stürzte und dabei gegen die Kristallstalagmiten stieß. Sein fallender Körper riss die farbigen Glasstücke aus ihrer Halterung. Der Kreis war durchbrochen, das blaue Licht verlöschte, und es blieb nur der pulsierende Tanz der Strahlen aus der Flammenquelle übrig, die von der hohen Decke zurückgeworfen wurden.

Während Garson mit aller Kraft gegen den Hebel drückte und den Schacht wieder schloss und der Scharfschütze seine Armbrust senkte, eilte Gyllian zu ihrem Vater. Faedryth lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Steinboden. Sie drehte ihn sanft um und zuckte zusammen, als sie die neuen weißen Haare in seinem Bart und die neuen Furchen in der Stirn sah, die vor wenigen Augenblicken noch nicht da gewesen waren. Es war so wie immer, doch die starke Prinzessin konnte sich einfach nicht an den Anblick ihres Vaters gewöhnen, der sonst so klar an Verstand und Auge war, jetzt aber mit leerem Blick in die tanzenden Feuerschatten über ihm starrte und sich vor der Rückkehr der Dunkelheit fürchtete, als der Schacht wieder versiegelt wurde.

»Was hast du gesehen?«, fragte sie leise, fuhr ihm über das Haar und ergriff mit ihrer altersfaltigen Hand die seine.

Faedryth starrte weiterhin aufgeregt in die Höhe. Seine Augen waren glasig, und er atmete flach, während er auf dem Steinboden seines Thronsaales lag. Als er schließlich Gyllian ansah, lag in seinem Blick eine Verzweiflung, die sie nie zuvor bei ihm gesehen hatte – nicht im Grauen der Schlacht oder dem Nahen der Niederlage, und auch nicht am Ufer des angeschwollenen Feuerflusses, den er aus seinem Schlaf zurückgeholt hatte und der Minenstädte und ihre Arbeiter geschluckt hatte. Er packte ihre Hand und versuchte Worte zu bilden, doch er glich einem Fisch auf dem Trockenen.

»Der Mörderkönig«, flüsterte er, als er endlich etwas hervorbringen konnte. »Wir müssen ihn aufhalten.«

28

Nordöstliches Yarim, am Fuss der Berge

Kein lebender Mensch und auch kein bereits gestorbener hatten je die Geschichte von der Erbauung der untergegangenen Stadt Kurimah Milani aufgeschrieben oder auch nur gekannt.

Es war gleichermaßen ein Geheimnis, von wem sie erbaut worden war.

Stolz hatte sie sich aus dem vielfarbigen Sand des westlichen Grenzgebietes zwischen Yarim und den oberen Bolglanden erhoben, wo der Wüstenlehm zuerst in die Steppe, dann ins Vorgebirge und schließlich ins Hochgebirge überging. Kurimah Milani war schon alt gewesen, als die ältesten Geschichtserzählungen aufgeschrieben wurden. Seine Minarette und schweren Steinmauern hatten unter einer sandigen Patina geglitzert, die angeblich in der Sonne geschillert und einigen der Kaufleute, die sie zuerst gesehen hatten, den Eindruck einer Illusion verschafft hatte, eines Trugbilds am Rande der ausgedehnten, leeren Wüste aus rotem Lehm, die sich viele Meilen weit am Fuße der Manganberge entlang des Erim Rus, des Blutflusses, erstreckte.

Die legendäre Stadt hatte angeblich an der Lucretoria gelegen, der uralten Handelsstraße, auf der die Karawanen mit Seide, Samen, Gewürzen, Stoffen, Salz, Juwelen und Erzen gereist waren. Es war nicht bekannt, wie lange die Eingeborenen des Kontinents auf dieser primitiven Straße gereist waren. Zu der Zeit, als die Cymrer dort angekommen waren, wo nun die Provinz Yarim lag, war die Lucretoria schon fast ganz im roten Lehm und Sand versunken, und Kurimah Milani hatte nur noch als Legende existiert.