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Trotzdem war der Mythos noch so lebendig, dass bisweilen kleine Pilgerkarawanen von Kranken und Versehrten, für die es keine andere Hoffnung mehr gab, verzweifelt die leere Wüste nach dem geringsten Anzeichen für die bekannten Heilquellen und die sagenhaften Sonnenbetten durchquerten, in denen die Leidenden wie Wüsteneidechsen lagen und die roten Strahlen der heilenden Sonne in sich aufnehmen sowie das kristallklare Wasser trinken konnten, das angeblich von den Händen sanftäugiger Statuen sprudelte und auch die schlimmsten Gebrechen zu heilen vermochte. Oder sie suchten nach dem großen Edelstein, der alle geistigen Krankheiten durch bloße Berührung vertrieb.

Doch alles, was sie je fanden, waren Wind und beißender roter Sand.

Manchmal ist die Hoffnung das Einzige, was eine Legende am Leben erhält. Das Erdbeben, das Kurimah Milani viele Jahrhunderte vor der Ankunft der Cymrer in die Tiefen der Wüste gerissen hatte, hatte alle Spuren für menschliche Augen getilgt, doch selbst diese große Erschütterung hatte nicht die Hoffnung auslöschen können, dass es irgendwo in der einförmigen, endlosen Landschaft noch immer einen Ort der Wunder gab, der jahrhundertelang geschlafen hatte und nur darauf wartete, von den Geduldigen, den Unerschrockenen oder den Verzweifelten gefunden zu werden. Die Hoffnung hielt diesen Mythos lebendig, auch wenn alles Suchen immer wieder umsonst war.

Doch manchmal gibt es mehr als Hoffnung.

Manchmal gibt es Vernunftgründe.

Die Drachin hörte die Musik, lange bevor sie wusste, was sie gefunden hatte.

Erschöpfung hielt sie fest im Griff; sie hatte nicht mehr die Kraft, eine Sklavin des Hasses zu sein. Schon lange hatte sie den Punkt hinter sich gelassen, von dem es keine Wiederkehr mehr gab, und ihr Geist war in eine Betäubung gefallen, die dem Tod vorausgeht. Tief im Erdreich spürte ihr Drachensinn nicht mehr alle Einzelheiten der Welt um sie herum, sondern war auf ihr eigenes verschimmerndes Leben gerichtet und zählte die Schläge ihres dreikammerigen Herzens, das sich bemühte, den Blutkreislauf in ihr aufrechtzuerhalten.

Als ihr dunkler werdender Verstand die ersten Töne des uralten Liedes hörte, das durch die Erde hallte, wusste sie nicht, ob dieser Klang aus der äußeren Welt kam oder ob er von ihrem eigenen herannahenden Tod verursacht wurde.

Nachdem sie eine Meile oder mehr darauf zugekrochen war, wurden ihre Gedanken klarer und konzentrierter, und die Bestie erkannte, dass sich der Ton gleichmäßig veränderte und einem musikalischen Muster folgte, das beruhigend auf ihren gebrochenen Verstand und ihren ausgetrockneten Körper wirkte. Sie spürte, wie sich ihr kaum noch durchblutetes Gewebe allmählich erholte und vor erneuerter Kraft summte. Ihr Herzschlag wurde stärker, und sie konnte wieder deutlicher sehen.

Die Drachin hielt an, lag für einen Augenblick still da und lauschte.

Die Erde, durch die sie reiste, schien zurückzuweichen. Die zerfetzte Haut der Bestie kribbelte angenehm. Die Musik drang tief in ihr zerfetztes Fleisch ein und belebte es, gab ihr genauso viel Kraft, wie sie brauchte, um ihre Reise fortzusetzen. Ihr nun wieder wacher Drachensinn folgte dem Lied in der Erde wie einem Leuchtfeuer.

Je lauter die Schwingungen durch die Erde hallten, desto zuversichtlicher wurde die Drachin. Mit jeder Meile, die sie zurücklegte, spürte sie deutlicher die Belebung und Verjüngung, die Angst und Verzweiflung von ihr nahmen und sie sogar aufmunterten, während sie noch blutete und ihr Herz wieder schwächer wurde.

Vielleicht trete ich gerade in das Jenseits ein, dachte sie, als sie weiter kroch, auch wenn sie sich kaum daran erinnerte, was das Jenseits bedeutete.

Sie war sich der Erdbewegungen, die sie auf ihrer Reise verursachte, nicht bewusst. Wie immer, wenn sie sich in einer Tiefe von weniger als eine Meile durch die Erde bohrte, platzte das Gestein auf und hinterließ Risse. Dabei wurden die wenigen Pflanzen entwurzelt, die in der leblosen Wüste übrig geblieben waren, und Skelette von schon lange gestorbenen Menschen und Tieren, die im Treibsand untergegangen waren, kamen wieder an die Oberfläche.

Die Musik erfüllte nun ihre Ohren und summte auf ihrer Haut unter den Schuppen. Sie erfüllte ihren Geist mit Träumen, die sich vor ihre Augen schoben, und als sie so dem Klang folgte, wurde der angeborene Blick in die Vergangenheit immer stärker. Vor sich sah sie zwar noch immer den trockenen und leblosen Lehm, zu dem die Wüste in der Gegenwart geworden war, aber das zweite Gesicht in ihr zeigte ihr etwas vollkommen anderes, ein jüngeres, neueres Land, in dem die Wüstenblumen noch blühten, niedrige Bäume den hier heimischen Tieren Schatten boten und Karawanen aus Menschen und Dromedaren über die Lucretoria reisten und lärmend und bunt, wie es bei Kaufleuten üblich war, an Kurimah Milani vorbeikamen.

Sie sah den Ort nicht so, wie er vor ihr in der Erde begraben lag, sondern so, wie er vor zwei Jahrtausenden gewesen war.

Vor ihr erhob sich ein gleißender Anblick, der in den Strahlen der untergehenden Sonne aufleuchtete. Hohe Minarette reckten sich den Wolken entgegen, ein melodisches Willkommen drang von den überwölbten Türmen herab. Jenseits der Stadttore plätscherte und schoss klares Wasser aus Springbrunnen, fing die Strahlen des Sonnenuntergangs ein, fiel in Brunnen aus Lapislazuli und nahm die warmen Farben mit.

Das verwundete Herz der Drachin hüpfte vor Aufregung. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es so etwas wie ein Trugbild gab, und sie wusste nicht mehr, dass sie sich noch immer in der Erde befand. Mit ihrem geistigen Auge sah sie die glitzernden Mauern der heilkräftigen Stadt um sich herum, während sie durch den großen Aquädukt kroch, in dem Ströme aus kristallklarem Wasser auf alle herabregneten, die hier eintraten. Sie schloss die Augen, als sie unter der Erinnerung des heilenden Wasserfalls hindurchschlich, und spürte die Kühle auf ihrer Haut, die ihr die Schmerzen nahm und das Feuer in ihr löschte.

Der Wahnsinn bewirkt offenbar, dass die Arme wachsen, denn für einen Wahnsinnigen ist nichts außerhalb seiner Reichweite, hatte einmal ein Weiser in ihrer Nähe gesagt. Wenn ihr zersplitterter Verstand die Dunkelheit der Tunnel erkannt hätte, in denen sie sich in Wirklichkeit befand, und wenn sie hätte begreifen können, dass die heilenden Wasser nichts anderes waren als Kies und Sand, der auf sie niederfiel, dann hätte sie vielleicht nicht jenen Schatz entdeckt, der tatsächlich unter dem treibenden Sand und dem roten Wüstenlehm verborgen lag.

Wasser, dachte die Bestie, als sie sich zwischen den zerborstenen Türmen, Steinwällen und Statuen hindurchschlängelte, die seit zwanzig Jahrhunderten im Sand begraben lagen, und dabei eine Spur dunklen Blutes hinterließ. Nur noch der Gesang dieses Ortes hielt sie aufrecht; ihr Körper, der eher tote Schale als lebendes Fleisch war, summte unter den Schwingungen dieses Ortes uralter Heilkräfte, doch selbst die Macht der Erinnerung an Kurimah Milani vermochte nicht das Lebensblut zu ersetzen, das aus ihrem verletzten Herzen tropfte. Hier ist Wasser, das weiß ich.

Und sie hatte recht. Auch wenn die berühmten Wassergärten während des Erdbebens völlig zerstört und die ergiebigen Heilbrunnen und Mineralbäder, welche die heißen Quellen aus den fernen Bergen bis zum Überfließen gespeist hatten, im Augenblick der Katastrophe von der Erde verschlungen worden waren, steckten tief unter dem Sand der Oberfläche noch die Überreste eines Stroms, der durch die verschütteten Gewölbe rieselte, die früher einmal die öffentlichen Bäder gewesen waren.

In ihrer Verwirrung war die Drachin auf eine der zentralen Fontänen der Stadt gestoßen. Es handelte sich um eine tiefe, lange Kaverne, die zu ihren besten Zeiten an einem gewaltigen Innenhof entlanggeführt hatte, der von Säulen aus glimmerndem Marmor und eingelegten Perlen getragen worden war, die man aus dem Erim Rus gefischt hatte. Der innere Blick der Drachin führte sie unverzüglich zu dem Strom, den sie als einen tiefen Teich sah, in welchem plätschernde Gischt im Rhythmus der fließenden Musik dieses Ortes himmelwärts sprang. Gierig trank sie daraus und folgte ihm auf der Suche nach mehr Wasser bis zur Quelle.