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Der Hauptmann rieb sich die Augen und sah erneut hin.

Über die trockene Ebene im Süden marschierte eine Schlachtformation heran, die sich in einzelnen Kolonnen näherte, welche allesamt die Zeichen und Farben des Herrschers von Sorbold trugen. Es handelte sich um berittene Kavallerie, Infanterie und eine große Anzahl von Wagen mit Geschossen, Katapulten und anderen Belagerungswaffen. Der Hauptmann überschlug ihre Anzahl rasch und kam auf fünf Divisionen mit jeweils einigen tausend Mann, die allesamt zielstrebig, aber ohne besondere Eile durch die Steppe marschierten.

An ihrem Ziel konnte es keinen Zweifel geben.

Wenn der Hauptmann kriegserfahrener gewesen wäre und schneller reagiert hätte, dann wäre seine Antwort ein paar Sekunden schneller erfolgt. Doch auch das hätte keinen großen Unterschied mehr gemacht.

Als er endlich seinen Schock überwunden hatte, rannte er zum nächsten Wachtturm, der sich links vom Tor befand. Im Gegensatz zu den Fallgattern, die von den anderen Städten bevorzugt wurden, bestand es aus zwei gewaltigen hölzernen Türen, in welche die heiligen, von dem fünfzackigen Stern des Patriarchen gekrönten Symbole aller fünf Elemente eingeschnitzt waren. Der Torwächter schlief; seine Aufmerksamkeit war nicht gefordert, da die Stadt versiegelt war. Fynn schüttelte ihn heftig durch.

»Läute Alarm! Verdammt, läute Alarm!. Sieh nur!«

Der Torwächter sprang auf die Beine und wäre beinahe von der Mauer gefallen. Er hastete aus der Sicherheit des Turmes und läutete das Signal, zu den Waffen zu greifen. Die schrille Glocke hallte laut über die Stadt, die sonst nur an das musikalische Geläut der Stundenglocken aus den Türmen der Gebetshäuser und an das große Glockenspiel der Basilika gewöhnt war, das jeden Tag zu Sonnenaufgang und Sonnenuntergang mit Hymnen zum Gebet rief.

Obwohl die Stadt versiegelt war, gab es doch innerhalb und außerhalb der Mauern morgendlichen Verkehr. Kaufleute zogen durch die Straßen, Frauen gingen von Geschäft zu Geschäft, von Zelt zu Zelt und suchten nach Lebensmitteln und anderen Gütern, die sie benötigten, Kinder rannten umher, und Mitglieder religiöser Orden liefen von einer heiligen Stätte zur nächsten. Der blecherne Ruf der Warnglocke brachte den Verkehr zum Erliegen; der gedämpfte Lärm des täglichen Lebens machte entsetzter Stille Platz.

»Geht in eure Häuser!«, rief der Hauptmann der Wache von den Zinnen herab.

Die Leute unten auf der Straße starrten ihn an und bewegten sich nicht.

»Geht, ihr hirnlosen Schafe!«, knurrte Fynn sie an. Dann wandte er sich an die Torwache.

»Schick einen Läufer ins Pfarrhaus, damit er den Abt und den Patriarchen warnt. Hol alle Bogenschützen hier herauf, und alle anderen sollen durch die Straßen gehen. Sag den Leuten … äh, also … sag ihnen …«

»Was soll ich ihnen sagen, Hauptmann?«

Der Hauptmann seufzte und versuchte sich an seine Ausbildung zu erinnern. »Ich weiß es nicht. Sag ihnen, sie sollen Wasser in Gefäßen sammeln, und schick zwei Reiter durch das Tor und den Weg hinunter. Sie müssen den Kaufleuten und Wirten mitteilen, dass sie sich sofort in den Schutz der Stadtmauern zu begeben haben – und auch die Pilger, die dort herumirren. Beeil dich; wir müssen das Tor sofort wieder schließen, sobald sie drinnen sind.«

»Was ist hier los, Herr?«, fragte der junge Soldat, dessen Augen vor Angst leuchteten. »Warum marschiert das sorboldische Heer auf die heilige Stadt zu?«

»Ich habe keine Ahnung, aber das ist unwichtig. Ich weiß nur, dass wir auf eine Belagerung nicht vorbereitet sind.« Fynn schaute wieder über die Mauer und wurde blass. »Bring vor allem die Nachricht zum Pfarrhaus. Vielleicht weiß der Patriarch, was zu tun ist, oder er schickt einen Hilferuf aus. Beeil dich. Und bete.«

Der Torwächter salutierte und kletterte die Leiter zur Straße hinunter. Er bahnte sich einen Weg durch die glotzende Menschenmenge zu den Quartieren der Wachleute.

Der Hauptmann schaute wieder nach Süden. Das Heer kam gemächlich heran, doch jetzt war es bereits so nahe, dass er die Kriegstrommeln von den Bergen widerhallen hörte. Dieser Klang hatte etwas Erschreckendes an sich; er war tief und hatte einen langsamen Rhythmus, doch er war beharrlich und gnadenlos.

Die Steine der Mauer erzitterten leicht, als der Boden unter den Erschütterungen durch die herannahenden Pferde und die Wagenräder zu beben begann.

Fynn starrte weiterhin auf das anrückende Heer, bis die Bogenschützen, die er hatte rufen lassen, sich um ihn und unter ihm versammelt hatten. Er schaute auf und schüttelte den Schock ab, der allmählich seinen Verstand betäubte und ihm ein Gefühl der Benommenheit und Dumpfheit verschaffte.

»Stellt euch in Position und schießt auf jeden, der versucht, die Mauer oder das Tor zu überwinden«, befahl er. »Zielt zuerst auf den Nächsten und feuert auf ihn, bis er tot ist. Falls sie einen Rammbock dabei haben – und das werden sie, wenn sie das Tor gewaltsam öffnen wollen –, dann feuert zuerst auf die Männer, die ihn tragen. Solange sie das Tor nicht aufbekommen, könnt ihr den Rest des Heeres draußen halten.« Die Bogenschützen, deren überwiegende Mehrheit nicht kriegserfahren war, nickten zitternd.

Fynn rief zu einem der Fußsoldaten hinunter: »Du – lauf zur Schmiede und sag ihnen, dass wir so viele Kohlen und heißes Pech brauchen, wie sie auftreiben können. Falls nötig, nehmen wir auch die Kohlenpfannen aus den Tempeln und der Basilika und den Weihrauch, einfach alles. Bring irgendetwas her, womit wir einen Angriff auf das Tor abwehren können.« Der Soldat lief los.

Nachdem die Mauer so gut wie möglich befestigt war, kletterte der Hauptmann die Leiter hinunter und war gerade auf der Straße angekommen, als die Glocken der Basilika das melodische Stundengeläut einstellten und stattdessen Alarm schlugen. Dieser Klang hallte über die ganze Stadt und hatte seinen Ursprung an der Basis des Turms – in ihm lag eine Autorität, die kein anderes Signal besaß.

Als die Bevölkerung dies hörte, geriet sie in Panik. Das schwere Tor wurde zum letzten Mal aufgezogen, und ein Meer aus Tierkarren und Menschen rauschte hinein, die all jene niedertrampelten, welche sich noch auf der Straße befanden. Die Torwächter versuchten, das Tor sofort wieder zu schließen, doch die Menge war zu gewaltig; in ihrem verzweifelten Versuch, Schutz vor dem herannahenden Heer zu suchen, das nun sogar bereits von unterhalb der Barrikade zu sehen war, machte sie alles nieder, was ihr im Weg stand.

»Begebt euch in die Basilika – sucht dort Unterschlupf!«, rief der Hauptmann, doch seine Worte gingen im Lärm der Menge unter, die nach Sepulvarta hineindrängte.

»Hol mir ein Fernglas«, sagte er zu einem der Soldaten, die vergeblich versuchten, die Kontrolle über die Menge zu erlangen. Der Soldat salutierte und rannte davon. Viele Minuten später kehrte er zurück; seine Uniform war durch den Kontakt mit der Menge zerrissen. Er übergab das Instrument dem Hauptmann, der wieder auf die Zinnen kletterte und durch das Glas in die Ferne blickte.

Die Abzeichen der vordersten Kolonne schienen die der Bergwacht von Jierna’sid zu sein – das Leibregiment des Herrschers. Sie trugen Rüstungen und Helme und schwere Armbrüste sowie gewöhnliche Kurzschwerter. Die steigende Frühlingssonne glitzerte auf ihren Rüstungen und Helmen und warf das Licht in blendenden Wellen zurück. Dem Hauptmann krampfte sich der Magen zusammen.

Am Kopf der Kolonne marschierte ein einzelner Soldat im Gleichschritt mit dem gesamten Heer. Der Hauptmann richtete das Fernglas auf ihn und justierte es neu, denn es hatte ihm nur ein verzerrtes Bild des Anführers gegeben. Er schaute wieder hinein und erkannte zu seinem großen Entsetzen, dass er vorhin doch kein verzerrtes Bild gesehen hatte.

Der Mann am Kopf der Kolonne schien beinahe ein Riese zu sein; er war mindestens zehn Fuß groß. Er wirkte farblos, und sein Gesicht zeigte so wenig Ausdruck, als wäre es aus Stein gemeißelt. Seine Bewegungen waren unbeholfen und schwerfällig, sein Gesicht primitiv, doch sein Schritt war fest. Dieser Soldat schien sich der marschierenden Reihen hinter ihm kaum bewusst zu sein; sein Gesicht war eine Maske, sein Ausdruck unveränderlich.