Er war fast doppelt so groß wie die übrigen Soldaten, die ihm folgten, als wäre er ein berühmter Held oder gar ein Halbgott.
Zwar war Sepulvarta ein Ort religiöser Seltsamkeiten, merkwürdiger Zeremonien und gelegentlich auftretender Wunder, doch der Hauptmann war von diesem Anblick so verblüfft, dass er glaubte, träumen zu müssen. In den ungefähr tausend Jahren seit ihrer Gründung hatte die Stadt Sepulvarta noch nie einen Angriff erlebt, vor allem weil sie als die Stadt des All-Gottes angesehen wurde. Der Gedanke, dass jemand der heiligen Stätte den Krieg erklären könnte, war einfach zu bizarr, besonders wenn es sich bei den Feinden um Sorbolder handelte, die demselben Glauben anhingen.
Doch die Reihen kamen näher.
Einige Nachzügler befanden sich noch außerhalb der Mauer und beobachteten nun das herannahende Heer mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination.
»Holt diese Idioten in die Stadt!« Er packte einen der Bogenschützen am Arm. »Ziel auf die Füße von einem von ihnen und schieß. Entweder bewegen sie sich dann endlich, oder sie bleiben draußen.« Er wandte sich an die Torwächter. »Macht euch bereit, die Tore zu schließen!«
Der Ruf schallte hinunter, während der Bogenschütze zielte und in die Menge feuerte. Sein Pfeil flog von der Sehne und fuhr in das Bein einer Bauersfrau, die mit offenem Mund auf das herannahende Heer starrte.
Nun brach Chaos aus.
Die hinter der Mauer verbliebene Menge drängte nach vorn und keilte alle anderen ein, auch Frauen und Kinder. Kreischend hasteten die Leute auf all jene zu, die hinter dem Tor darauf warteten, dass sich die engen Straßen ein wenig leerten. Der Hauptmann sah mit dumpfem Entsetzen zu, wie Blut floss, Kinder niedergetrampelt wurden und Gewalt unter den Pilgern ausbrach, die plötzlich zu Flüchtlingen geworden waren.
»Geht zur Basilika und sucht dort Unterschlupf!«, rief er wiederholt, doch der Lärm des Aufruhrs übertönte ihn.
Ein Soldat weiter hinten auf der Mauer gab ihm aufgeregt ein Zeichen. Fynn erkannte, dass hinter ihm ein großer, dünner Mann mittleren Alters mit einem grauen Haarkranz stand. Er war in die Roben der Basilika gekleidet und hielt vor Angst die Arme eng um den Bauch geschlungen. Der Hauptmann eilte die Mauer hinunter und umrundete dabei vorsichtig die Bogenschützen, die angesichts des feindlichen Heeres wie ein Eimer Wasser wirkten, mit dem man ein Buschfeuer löschen wollte.
Als er den Soldaten erreicht hatte, erkannte er den älteren Mann als Gregor, den Küster von Lianta’ar und einen der engsten Vertrauten des Patriarchen.
»Was … was ist hier los?«, wollte der Geistliche wissen. »Da muss ein Irrtum vorliegen.«
»Das ist durchaus möglich, Euer Gnaden«, sagte der junge Hauptmann, »aber sie rücken mit einer Entschlossenheit an, die sofortige Gegenmaßnahmen notwendig machen.« Er gab den Torwächtern ein Signal, und die gewaltigen Flügeltüren wurden unter erheblichen Anstrengungen und mit großem Lärm geschlossen und gegen das Heer verriegelt. Fynn wandte sich wieder an den Küster. »Was empfiehlt der Patriarch zu tun?«, fragte er nervös. »Hat er Befehle für uns? Nie zuvor mussten wir einen Angriff abwehren, Euer Gnaden. Wir brauchen Anleitung.« Das Gesicht des Küsters wurde schlaff. »Äh, nein, Seine Gnaden, der Patriarch, hat keine besonderen Befehle erlassen«, sagte er zögernd. »Ich glaube, er traut dir und den Männern zu, die heilige Stadt eigenständig zu schützen.« »Euer Gnaden …«
»Das ist alles, Hauptmann. Ich muss zum Vogelhaus gehen. Es könnte nötig werden, einen geflügelten Boten mit einer Bitte um Hilfe an das Bündnis zu schicken.« Der Hauptmann der Wache lächelte erleichtert. »Das wäre ein Segen, Euer Gnaden.« Der Küster nickte. »Macht weiter.« Er kletterte von der Mauer herunter und tauchte ein in das Meer der Flüchtlinge. Fynn schaute wieder durch sein Fernglas. Das Heer von Sorbold kam näher und folgte ihrem gigantischen Standartenträger. Nun war das Rumpeln hörbar, das sich zwischen den Bergen im Süden und dem Hügel brach, auf welchem die Stadt lag; es hallte immer drohender wider, je näher die Kolonnen kamen. Fynn und der Rest der Stadtwachen warteten ab.
Den ganzen Morgen hindurch und bis in den Nachmittag hinein rückte das Heer heran. Unbarmherzig marschierte es in stetigem Schritt zum Schlag der Kriegstrommeln. Als schließlich die Sonne hoch am Firmament stand und im roten Glanz des Frühlingsnachmittags brannte, waren die gegnerischen Soldaten auch ohne Fernglas deutlich zu erkennen.
Fynn hatte den ganzen Tag über gezählt. Nach seiner Rechnung waren es fünf Divisionen; jede bestand aus zehntausend Soldaten und Versorgungstruppen. Der Riese, der sie anführte, schien weder zu sprechen noch Befehle zu geben; das Heer folgte ihm lediglich durch die offene Steppe.
Die schweren Geschosse, Katapulte und anderen Belagerungswaffen waren an das Ende der Reihen verbannt. Das fand Fynn seltsam. Er erinnerte sich daran, dass er in der Ausbildung gelernt hatte, diese Waffen seien in der Mitte eines heranrückenden Heeres mitzuführen, damit man sie rasch einsatzfähig machen und gleichzeitig vor der ersten Abwehr schützen konnte.
Überdies sah er Dutzende gewaltiger Wagen mit flachen Ladeflächen, auf denen breite, niedrige Zelte errichtet worden waren. Fynn konnte nicht erkennen, was sich innerhalb dieser Zelte befand, doch ihr bloßer Anblick drohte seine Eingeweide in Aufruhr zu verwandeln.
»Gibt es Nachrichten vom Patriarchen?«, fragte er die Soldaten auf der Straße unterhalb der Mauer. Die Männer schüttelten nervös die Köpfe. Fynn seufzte. »In Ordnung, dann warten wir ab. Es bleibt uns kaum etwas anderes übrig. Sorgt dafür, dass so viele Leute wie möglich in Sicherheit gebracht werden.« Seine Worte klangen hohl. plötzlich hörten die großen Kriegstrommeln auf zu schlagen.
Vor der heiligen Stadt wurde der Lärm des herannahenden Heeres leiser. Das Knirschen der Wagenräder, das Ächzen des Holzes, das Stampfen der Stiefel, das Scheppern der Rüstungen, das Hufgetrappel der Pferde und das Rasseln der noch in den Scheiden steckenden Schwerter drangen nicht mehr so laut herbei.
Ein einzelner Offizier zu Pferd löste sich mit zwei Adjutanten aus den Reihen rechts des Riesen und ritt auf das Tor zu. Einer der Adjutanten hatte einen verhüllten Falken auf dem Arm. Sie hielten außerhalb der Bogenschussweite an. Der Offizier ritt noch ein Stück weiter, während der Adjutant die Lederriemen löste, welche die Krallen des Falken festbanden.
»Ich bin Fhremus, Kommandant des herrschaftlichen Heeres von Sorbold«, verkündete er. Seine Stimme drang mit einer Stärke durch den Wind, die von langen Jahren der Befehlsgewalt kündete. »Wenn ihr den Vogel verletzt, wird das als Angriff auf das ganze Heer angesehen werden.« Er nickte dem Adjutanten zu, und der Mann ließ den Falken los.
»Wo ist der Küster?«, wollte Fynn auf den Zinnen wissen.
Die Soldaten, die sich hinter dem Tor gesammelt hatten, traten beiseite, und der Geistliche kam hervor.
Der Vogel stieg auf, bis er sich über der Mauer befand. Er stieß einen lauten, anmutigen Ruf aus, sank steil nieder und warf eine in ein Öltuch eingewickelte Schriftrolle über die Zinnen. Dann drehte er eine Kurve und kehrte mühelos zu seinem Herrn zurück.
Die Botschaft wurde rasch aufgehoben und Gregor übergeben. Der Küster erbrach das Siegel mit zitternden Händen und las die Botschaft, die sowohl in der Volkssprache des Kontinents als auch in der heiligen Schrift des patriarchalischen Glaubens verfasst war.
Constantin, der Patriarch von Sepulvarta, ist ein Häretiker, der eine Ungeheuerlichkeit gegen den Schöpfer, das Volk von Sorbold und das Reich der Sonne begangen hat. Öffnet das Tor, schickt ihn hinaus, und wir werden die Stadt verschonen.
Gregor starrte die Botschaft an und warf sie dann wütend zu Boden.
»Sakrileg!«, schäumte er. »Sakrileg und Blasphemie!« Er wandte sich an Fynn. »Dies ist eine uneinlösbare Forderung, die nicht einmal wiederholt, geschweige denn erwogen werden darf. Halte das Tor, Hauptmann, und halte die Mauer, so lange es möglich ist.« Er schaute hoch zum Turm; der Stern darauf leuchtete im verdämmernden Licht. »Möge der All-Gott uns verteidigen.«