Er machte sich auf den Rückweg ins Pfarrhaus und wusste im Gegensatz zu jedem anderen in der Stadt, dass der Forderung auch deshalb nicht entsprochen werden konnte, weil der Patriarch bereits fort war.
»Wie lange sollen wir warten, Kommandant?«, fragte Minus, einer der Adjutanten von Fhremus, als der Falke zu Trevnor zurückkehrte, dem anderen Adjutanten.
»Wir geben ihnen eine Stunde«, sagte Fhremus. »Das scheint mir gerecht zu sein.«
Er warf einen Blick über die Schulter auf den Titan. Faron, wie der Herrscher ihn genannt hatte, stand still und reglos da, die Arme an den Seiten, und sah genauso aus wie die Statue, die er einst gewesen war. Vielleicht erinnert er sich an diesen Ort, wo der Patriarch ihn mit unnatürlichem und unheiligem Leben erfüllt hat, dachte Fhremus und war von diesem Gedanken angewidert. Er hatte keine Ahnung, zu welchen Gefühlen die Statue fähig war und ob sie überhaupt welche hatte, doch er wäre nicht überrascht gewesen, wenn sie nun Rache nehmen würde.
Als die Stunde vergangen war und keine andere Antwort als das Läuten der Alarmglocken aus der Basilika gedrungen war, wandte sich Fhremus an Minus. »Die Zeit ist um«, sagte er. »Bereitet die Iacxsis vor.« Er wandte sich nach Westen und sah zu, wie die Sonne ihren Abstieg zur Nacht fortsetzte und heiß über der weiten Ebene der Krevensfelder brannte.
30
Die hastig zusammengestellten Verstärkungstruppen hatten entlang der orlandischen Straße bei jeder Garnison und in jedem Ort angehalten. Vom westlichen Navarne bis zum südlichen Bethania hatten Anborn und Constantin Ashes Befehle bei jeder bewaffneten Poststation und jedem Außenposten der Bündnisreserven übergeben und gerade so viele Männer und Vorräte erhalten, wie man jeweils entbehren konnte.
Obwohl die Region nur spärlich besiedelt war und der Marschall Ashes Kriegsvorbereitungen sehr kritisch betrachtet hatte, waren er und der Patriarch doch auf viele willige Soldaten getroffen, die gut ausgebildet und innerhalb weniger Minuten abreisebereit waren. Sie hatten schon mehr als vier Jahre routinemäßig Kaufleute und Reisende durch den Kontinent geführt und kannten jede Nebenstraße und jeden Fußweg von Bethe Corbair und Canrif bis zu Port Fallon in Avonderre. Außerdem hatten sie sich des Systems der geflügelten Boten bedient, das Llauron eingeführt und Rhapsody vervollkommnet hatte, und wenn sie daher in das nächste Lager kamen, konnten sie zufrieden feststellen, dass alle verfügbaren Soldaten bereits im Sattel saßen und sie erwarteten. Sie passen sich hervorragend an und kümmerten sich um die wenigen schweren Waffen, die der Marschall mitgenommen hatte, sowie um den Wagen, auf dem die Gehmaschine transportiert wurde.
Als sie den letzten der Außenposten erreicht hatten, hatten sie eine kleine, aber schlagkräftige Truppe von etwas weniger als zehntausend Mann zusammengestellt, bei denen es sich hauptsächlich um Berufssoldaten, aber auch um einige Bauern und Kaufleute handelte, die im Kriegshandwerk ausgebildet waren. Erstaunt stellte Anborn fest, dass sogar Freiwillige aus den Gehöften und Dörfern in der Umgebung der letzten Garnisonen gekommen waren, um der Ehre teilhaftig zu werden, mit dem berühmten Marschall aus dem Cymrischen Krieg reiten zu dürfen, der die heilige Stadt retten wollte.
»Beim nächsten Mal erzählen wir ihnen, dass wir hinter den Damen aus den Bordellen in Jemehr her sind«, sagte er zu dem Patriarchen. »Dann bekommen wir dreißigtausend.« Der heilige Mann lächelte unter der Kapuze seines Bauernmantels.
In dem kleinen Dorf Streiftor, dem letzten Halt vor der südlichen Straße nach Sepulvarta, wartete eine Hand voll Knaben von elf oder weniger Sommern auf einem Esel, einem Pony und zu Fuß. Sie hatten Metalltöpfe auf dem Kopf und Hacken in den Händen. Die Soldaten in der Kaserne beim Dorf hatten sie mehrmals fortgeschickt, doch die Jungen waren immer wieder zurückgekommen und warteten auf ihre Gelegenheit, an der Schlacht teilzunehmen. Schließlich erlangten sie die Aufmerksamkeit des Marschalls, der seinen Soldaten befahl, auf der Straße zu warten, während er auf sie zuritt und sein Pferd vor ihnen anhielt.
»Wen haben wir denn hier? Noch mehr Rekruten?«
Fünf junge Gesichter starrten ihn mit offenen Mündern an.
»Ja, Herr«, erwiderte der Einzige von ihnen, der seine Stimme noch unter Kontrolle hatte.
»Sehr gut«, meinte Anborn nur. »Kommt mit.«
Die Soldaten sahen einander an und öffneten dann ihre Reihen, um die Jungen aufzunehmen.
»Also gut«, sagte der Marschall und setzte sich wieder an die Spitze, »ziehen wir weiter.«
Die Kohorte reiste nach Süden über die Pilgerstraße und hatte die aufgehende Sonne zu ihrer Rechten. Nach drei Meilen befahl der Marschall am Rande eines kleinen Wäldchens aus verkrüppelten Kiefern anzuhalten und löste sich erneut von der Gruppe.
»Ich brauche Reiter für eine heikle Mission, die mit den folgenden Siedlungen vertraut sind: Süddorf, Weidenfork, Hylans Landung und Streiftor. Wer die Wege zu diesen Orten kennt, trete hervor.«
Die Reihen teilten sich, und Soldaten aus den genannten Orten ritten nach vorn. Zum Schluss kamen die fünf Jungen aus Streiftor.
»Lagert hier«, befahl Anborn ihnen. »Ihr bildet die Nachhut. Auf der ganzen Straße bis Sepulvarta werde ich Reiter in Lagern positionieren, die den Befehl zur Evakuierung von Ost nach West verbreiten und die Felder bewachen. Schickt jeden zurück, der auf dieser Straße reist, bis ich wieder hier vorbeikomme oder ihr andere Befehle erhaltet. Verstanden?«
Die Soldaten nickten und stiegen ab, aber die Jungen blieben auf ihren Reittieren sitzen und hielten ihre behelfsmäßigen Waffen weiterhin fest in der Hand, während sie einander ansahen.
»Aber, Marschall«, platzte der Tapfere hervor, während Anborn sich umdrehte und bereits aufbrechen wollte, »wir wollen mit Euch gehen, Herr. Wir wollen in die Schlacht ziehen.«
Der General sah sie an. »Das werdet ihr«, sagte er brüsk und schenkte ihren bettelnden Blicken keine Beachtung. Er deutete auf das Kiefernwäldchen. »Ich brauche hier mit Holzpfählen verstärkte Erdwälle gegen einen möglichen Kavallerieangriff, tausend Schritte lang zu jeder Seite der Straße.« Dann ritt er zurück zur Kolonne, und die Kohorte setzte sich wieder in Bewegung und ließ die Nachhut zurück.
»Absitzen, Jungs«, sagte einer der Soldaten, die nun ihre Reittiere entluden. »Ihr wolltet sehen, wie der Krieg ist? Es gehört eine Menge Warten dazu. Aber vergesst nicht, dass die Vorbereitungen entscheidend für den Sieg sind. Nicht der Arm eines einzelnen Mannes, sondern die ganze Einheit landet den tödlichen Schlag.«
Die Jungen seufzten elend und machten sich an die Arbeit.
Der Ritt nach Sepulvarta wirkte belebend, wie Anborn feststellte. In seiner Jugend war tief in sein zynisches Innerstes die Hingabe an die militärische Bruderschaft eingepflanzt worden, die ihn sein ganzes Leben hindurch begleitet hatte. Im Nachtlager, draußen in der Dunkelheit zwischen den Feuern und den schlafenden Soldaten, dachte er an die vielen Jahrhunderte des Krieges und der Verwüstung zurück, an den Verrat und die Abscheulichkeiten, die er immer wieder zu einer Zeit beobachtet hatte, in der er von allem auf der Welt nur dieses eine begehrt hatte: ein Leben der Selbstlosigkeit und Verteidigung, des geteilten Opfers zusammen mit Waffenbrüdern. So war er über die Jahre verbittert, traute nur noch wenigem auf der Welt und hoffte noch weniger, doch in seiner schwarzen, verzerrten Seele steckte noch immer etwas, das von der Kameraderie und Hingabe an die Pflicht, die er nun wieder sah, angerührt wurde.
Er erinnerte sich daran, wie seine Mutter in seiner Jugend nicht verstanden hatte, warum sein Verlangen, die Kriegskunst zu erlernen, ihn an Oelendra gebunden hatte. Sie war eine lirinische Meisterin aus Tyrian gewesen, eine Cymrerin der Ersten Generation und Heldin aus der alten Welt. Sie war die Iliachenva’ar gewesen, die Trägerin des Schwertes, das nun Rhapsody gehörte, und sie hatte ihn gut ausgebildet, auch wenn er nie ihre Anerkennung gespürt hatte, nach der er sich mehr als nach allem anderen gesehnt hatte. Anborn lehnte sich gegen seine Bettrolle zurück, schaute in den Nachthimmel, der von hellen Sternen durchglommen war, und erinnerte sich an die Worte, die sie zu ihm gesagt hatte.