Das Wasser wird dir nicht schaden, wohl aber die Panik. Bleib ruhig.
Es ist so tief, Vater.
Er hatte einen Wasserstrahl ausgespuckt. Die Tiefe macht dir nichts aus, solange du den Kopf über Wasser hältst. Kannst du atmen?
Ja-a-a.
Dann kann es dir gleichgültig sein, wie tiefes ist. Konzentriere dich auf das Atmen, dann wird alles gut. Gerate nicht in Panik. Panik kann dich töten, selbst wenn sonst keine Gefahr herrscht.
Panik kann dich töten, selbst wenn sonst keine Gefahr herrscht.
Rhapsody schloss die Augen, als eine weitere Welle über sie hinwegrollte.
Nein, dachte sie. Ich werde nicht in Panik geraten. Ich habe mich nicht von der Klippe gestürzt, nur um von etwas besiegt zu werden, das mir gar nichts Böses will.
Sie versuchte auf dem Rücken zu schwimmen. Eine Weile gelang es ihr. Mit einer Hand stützte sie sich an der Höhlendecke ab, und den anderen Ellbogen hielt sie eng gegen die Seite gedrückt, um so wenig abgeschürfte Haut wie möglich dem Salzwasser auszusetzen. Sie fasste einen klaren Kopf und lauschte dem Rhythmus der Strömung und der Flut. Sie hörte eine Musik im Wasser, eine Kadenz, einen Ton, auf den sie sich konzentrieren konnte, um ruhig zu bleiben.
Nach einer schieren Ewigkeit verebbte das Wasser, und die Tide fiel.
Als der Sims sichtbar wurde, dachte Rhapsody über ihre Möglichkeiten nach. Sie überlegte, ob sie Elynsynos rufen sollte, die Drachin, deren Nest nicht weit von der Stelle entfernt lag, wo Michael und seine Männer sie entführt hatten, doch sie verwarf diesen Gedanken, denn sie wusste, dass Elynsynos sie durch das Wasser nicht hören konnte. Aus diesem Grund war auch Merithyn gestorben, der Liebhaber Elynsynos’. Das Salzwasser brannte ihr in den Augen.
Sie hatte auch darüber nachgedacht, ob sie den Ruf der Blutsverwandten ausstoßen sollte, wie sie es schon einmal getan und dadurch Anborn in der Stunde ihrer größten Not herbeigerufen hatte. Doch Michael beherrschte das Element der Luft. Wenn der Wind sie verriet, konnte er sie finden. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihre eigenen Überlebensfähigkeiten einzusetzen. Niemand konnte ihr helfen – außer sie selbst.
Rhapsody begab sich erneut zu dem Sims und schaute hinunter auf das grüne, wirbelnde Wasser. Unter der Oberfläche bemerkte sie eine Bewegung, ein Gleiten, das ihr eine Gänsehaut verursachte.
Schlangen?, dachte sie benommen. Nein, Aale. Die Höhle war voll von ihnen. Sie waren schwarz und ölig, waren mit der letzten Flut hereingekommen und von der Ebbe noch nicht wieder herausgesogen worden. Eine Nahrungs- und Wasserquelle. Rhapsody unterdrückte ihren Widerwillen, nestelte ihr zerrissenes Hemd auf, zog es aus und band es zu einer Art Falle zusammen.
Ich werde es überleben, dachte sie und fuhr sich mit der Hand über den Bauch. Wir werden es gemeinsam überleben, du und ich. Und wir werden hier herauskommen.
Der Wind pfiff durch die Höhle, doch plötzlich legte er sich.
Der Seneschall wartete nicht, bis das letzte Beiboot an Land gegangen war, sondern entzündete bereits das schwarze Feuer.
Jedes der Ruderboote hatte eine Laterne am Bug, die über den Rand des Schiffes hinaushing und die Untiefen und Riffe auf dem Weg zum Ufer beleuchtete. Nun ergriff der Dämon in Menschengestalt die erste dieser Laternen und riss sie mit einer heftigen Bewegung aus der Halterung. Das scharfe Ende eines Blankgelegten Drahtes glitzerte in der Sonne. Der Seneschall fuhr mit dem Finger darüber. Das hervorquellende Blut zischte im Feuer einer anderen Welt. Er nahm den Schirm von der Laterne, hielt den Finger hoch und ließ das Blut in die Flamme tropfen. Beißende Rauchfäden stiegen auf und entzündeten sich zu Funken, die von der Luft angefacht wurden. Ein abgespaltener Teil der schwarzen, fließenden Flamme verwandelte sich zitternd und zuckend in ein strahlend böses Muster aus Farben, schwerer als alles, was in der Oberwelt brennen konnte; er bemächtigte sich des Dochtes und glühte auf.
Plötzlich wurde die Flamme dunkler, zuckte böse und wurde zu einem intensiveren, wilderen Licht. Michael wandte sich an die neue Gruppe Soldaten und Seeleute, die mit ihm an Land gegangen waren. Er gab dem Anführer der ersten Gruppe von vier Männern die Laterne und griff nach der nächsten, um sie auf dieselbe Weise in Brand zu setzen.
»Durchkämmt die Küste«, befahl er, während sein Vogt die Männer in kleinere Suchtrupps aufteilte.
»Durchsucht jeden Abort in jeder Hütte in jedem Fischerdorf. Wenn ihr sie findet, zerrt ihr sie heraus und verbrennt das Haus und alle, die ihr Unterschlupf gewährt haben.«
Seine blauen Augen glitzerten wild in der Dunkelheit.
»Wenn ihr sie nicht findet, verbrennt alles in eurer Sichtweite.«
Als ein Teil der Suchtrupps aufsaß und sich die anderen zu Fuß auf den Weg machten, zog der Seneschall Caius, seinen treuen Bogenschützen, zur Seite.
»Für dich habe ich eine besondere Aufgabe«, sagte er. Seine Stimme verriet Erregung, gepaart mit Besorgnis. »Quinn sagt, sie hat ihr Zuhause einige Tagesritte ins Landesinnere hinein, in der ersten Festung an der Straße, die durch den ganzen Kontinent führt. Diese Festung ist unter dem Namen Haguefort bekannt und liegt in der Provinz Navarne. Sieh nach, ob sie nach Hause gekrochen ist. Und leg den Ort in Schutt und Asche, ob sie da ist oder nicht.
Wenn du in den Wirren der Evakuierung auf ihren Gatten stößt, schaff ihn als Ersten aus dem Weg«, fuhr er fort. Sein knochiges Gesicht verhärtete sich, die scharfen Kanten deuteten den Dämon an, der in ihm hauste. »Aber schneide ihm etwas als Souvenir ab, und zwar etwas, das Rhapsody auf alle Fälle erkennen wird.«
»Woher weiß ich, dass er es ist?«
Michael zuckte die Achseln. »Nimm einfach an, dass jeder Mann, der alt oder jung genug ist, um ohne fremde Hilfe gehen zu können, ihr Gatte ist. Sei gründlich. Bringe jeden um, auch die Kinder, Caius.
Jeden.«
Caius nickte und schwang sich auf sein Reittier.
»Auch wenn du in Erinnerung an deinen Bruder schießt«, sagte Michael in einer plötzlichen Aufwallung von Fröhlichkeit, »versuche, immer mit nur einem Schuss zu töten. Wenn du mehr abfeuerst, und sei es zum Gedenken an den armen, wurstfingerigen Clomyn, wird dir schnell die Munition ausgehen, und man wird dich überwältigen.«
Caius’ Augen verengten sich bei der lässigen Erwähnung seines Zwillingsbruders, doch er sagte nichts, sondern trieb sein Pferd nach Osten zu der Straße, die ihn nach Navarne bringen würde.
40
Unter günstigeren Umständen wären der Bolg-König und der cymrische Herrscher füreinander keine angenehmen Reisegefährten gewesen.
Aber unter den ungünstigen Umständen, in denen sie sich nun befanden, entdeckten sie, dass sie aus Notwendigkeit recht ungezwungen miteinander umgehen konnten.
Beide hatten kein Bedürfnis nach Kameraderie oder Gesprächen. Achmed verbrachte seine wache Zeit damit, die unzähligen Schwingungen im Wind abzuwehren, jede Windstille nach einer Spur von Rhapsodys Herzschlag abzusuchen sowie den Gestank des F’dor zu erkennen, der sich nun von Michael nährte, einem Mann, den er schon in der alten Welt verabscheut, aber noch nie aufgespürt hatte. Ashe hingegen durchsiebte mit dem unendlich geschärften Bewusstsein des Drachen in seinem Blut unbewusst die unzähligen Informationen, die seine Sinne bedrängten. Die meisten waren alltäglich und unwichtig, und keine davon deutete an, dass seine Frau noch in der Welt der Lebenden weilte.