Er schüttelte den Kopf und ging schnell zurück zu seiner Werkbank, wo die Bolg-Lehrlinge und Gesellen die Farben zubereiteten, die der Asche und dem Sand in den großen Fässern neben den Öfen beigegeben wurden.
Esten starrte noch einen Augenblick lang auf die Symbole, dann zuckte sie die Schultern. Sie nahm jede der übrigen Testplatten und hielt sie gegen die Farben. In allen außer der letzten entdeckte sie die Zeichen.
»Nun gut. Wir sollten keine Zeit verlieren, indem wir uns über die Bedeutung Gedanken machen. In Ordnung. Rhur, sag den Leuten am Ofen, sie sollen die großen Scheiben in allen Farben außer Violett schmelzen. Für diese letzte Farbe haben wir noch nicht die richtige Formel gefunden. Aber bei den anderen sechs können wir den Schmelzvorgang beginnen. Sobald sie fertig sind, zermahlt sie und bereitet sie zum Brennen vor.«
»Zermahlen?«, fragte Shaene ungläubig. »Möchtet Ihr noch etwas der Mischung zugeben und sie dann erneut schmelzen? Eine Glasur vielleicht?«
In Estens Augen glitzerte es. »Ja, eine Schutzglasur, damit die Gläser stärker sind, wenn sie aushärten. Ich habe sie aus Yarim erhalten. Sie befindet sich in diesen grünen Fässern. Niemand außer mir darf sie berühren. Die Glasur ist sehr kostbar. Macht euch an die Arbeit. Ich möchte die Decke fertig haben, bevor der König zurückkehrt.«
Omet glättete die Oberfläche des Holzbrettes, auf dem die Scheiben geschnitten werden sollten, und staubte es leicht mit Kalk ein. Als das Brett so weiß wie seine Hände war, nahm er die Wasserkanne und besprenkelte es, dann rieb er es heftig ab, damit die Oberfläche spiegelnd und leicht erkennbar wurde.
Sobald das Brett vorbereitet war, schaute er Esten an, die gerade den Gesellen Befehle gab, und seufzte still.
Er griff nach dem Kompass mit der Zinnnadel, mit dessen Hilfe sie die Fensterteile anzeichnen würde, die er mit rotem Pigment ausfüllen sollte. Danach musste er die Lage der bleiernen Stützstreben vermerken, die jede Sektion von den anderen trennten.
Seine Hand zitterte. Wie sehr er auch versuchte, seinen Schrecken einzudämmen, und obwohl er mit einem ausdruckslosen Gesicht gesegnet war, zeigte er doch verborgene Anzeichen von Angst, wie das Glitzern, das er bei Gelegenheit in seinen Augen gesehen hatte, wenn sie sich in dem wellenförmigen Glas spiegelten. Außerdem war sein Mund trocken wie der Sand und die Asche, aus denen das Glas geschmolzen wurde, und manchmal weigerte sich seine Stimme, einen Laut aus der wie zugeschnürten Kehle hervorzubringen.
Und seine zitternden Hände.
Hat sie es bemerkt?, fragte er sich und sah zu, wie die hinter ihrer Maske verborgene Gildenmeisterin mit einem glühend heißen eisernen Schneidegerät Teile aus anderen Glasscheiben herausschnitt und sie mit ihrer schlechten Zange in die richtige Form brachte. Wie lange wird es dauern, bis sie erkennt, dass ich einmal ihr gehört habe, dass ich unter ihrer Knute gelebt habe, dass ich im Inferno ihrer Ziegelei gewesen bin, dass ich zugesehen habe, wie sie die Leichen der toten Sklaven in den Öfen verfeuert und noch hundert andere Verbrechen begangen hat?
Bei all diesen Fragen war ihm jedoch klar, was geschehen würde, wenn sie ihn entdeckte.
Bitte lass den König bald zurückkehren, betete er zu jedem Gott, der ihn hören mochte. Er spürte den Blick der schwarzen Augen in seinem Nacken.
»Sandy, hol die Steinmetzen her«, sagte sie schroff. »Es ist Zeit, das Maßwerk auszumessen.«
Omet nickte, ohne sich umzudrehen, und war Shaene für seinen dummen Spitznamen sowie Rhur für dessen Schweigen so dankbar wie noch nie. Wegen ihrer Eigentümlichkeiten war sein wahrer Name noch nicht bekannt geworden. Er erhob sich von seiner Werkbank, verließ rasch den Raum und machte sich auf den Weg zu den Steinmetzen.
Er hatte überlegt, ob er Shaene oder Rhur vor der neuen Künstlerin warnen und sie bitten sollte, seinen wahren Namen nicht in ihrer Gegenwart auszusprechen sowie die Arbeit zu verzögern, bis der König wiederkam. Doch das konnte er nicht tun. Er hatte sie in Aktion gesehen, hatte beobachtet, wie sie die unglücklichen Jungen, die zu entkommen versucht hatten, lebend in die Öfen geworfen oder sie zu Aufgaben herangezogen hatte, bei denen sie unweigerlich ertrinken oder ersticken mussten. Wenn er irgendjemandem seine Seele ausschüttete und sein Entsetzen laut aussprach, würde das nur sein Ende beschleunigen.
Er wusste, was jeder wusste, der ihren Namen kannte.
Kein Geheimnis konnte man lange vor Esten verbergen, geschweige denn für immer.
42
Nach den ersten Tagen gelang es Rhapsody, in ihrer Gefangenschaft in der Gezeitenhöhle zu einer gewissen: Routine zu gelangen.
Sie hatte einen mutigen Versuch unternommen, mit der Ebbe hinauszuschwimmen, doch es hatte nur bestätigt, was, sie schon gewusst hatte, nämlich dass die wirbelnde Tide zu stark für sie war. Die Strömung erfasste sie beinahe sofort und sie musste darum kämpfen, nicht zu ertrinken. Also musste sie nach einem anderen Ausweg suchen.
Sie wusste, dass sie neben Wärme unbedingt auch Wasser brauchte. Es war leicht, sich während der Ebbe zu trocknen. Das elementare Band ihrer Seele zum Feuer erlaubte ihr, Wärme auf Befehl zu erzeugen, und sie ergriff jede Gelegenheit dazu und trocknete sich immer wieder Haar und Kleidung. Sie genoss den Luxus, nicht durchnässt zu sein, bis die nächste Flut kam, und bewahrte so ihren Körper davor, zu viel Wärme zu verlieren.
Wasser war schwieriger zu bekommen. Ein wenig kondensiertes Süßwasser konnte sie manchmal bei Flut an der Decke einsammeln, doch es reichte nie, um ihren Durst zu stillen. Sie musste sich mit dem Blut der Aale zufrieden geben, die mit der Flut zahlreich hereinströmten und gefangen waren, wenn die Ebbe einsetzte. Rhapsody aß ihr Fleisch roh, um so viel Flüssigkeit wie möglich zu erhalten. Manchmal fing sie ein paar Austern, andere Fische oder Seeigel, die in die Höhle gespült wurden. Nach einigen albtraumhaften Tagen spielte die Art ihrer Nahrung keine Rolle mehr für sie.
Wir werden es gemeinsam überleben, du und ich, hatte sie ihrem ungeborenen Kind versprochen. Sie würde alles nur Erdenkliche tun, um dieses Versprechen zu halten.
Ich bin eine Sängerin, eine Benennerin, dachte sie und streichelte sich über den Bauch, während sie von ihrem Sims am hinteren Ende der Höhle aus sehen konnte, wie der graue Himmel rosafarben wurde. Aber auch weil ich deine Mutter bin, muss ich dir die Wahrheit sagen.
Sie schloss die Augen und erinnerte sich an Ashes zärtliche Worte in der Nacht, als ihr Kind gezeugt wurde.
Und was willst du mir zum Geburtstag schenken?
Jemanden, dem du deine Morgenaubade und deine Abendvesper beibringen kannst.
Ein winziger Balken aus Sonnenlicht brach am Horizont durch die Dunkelheit. Rhapsody räusperte sich. Ihre Kehle war rau vom Salzwasser. Sie sang still eines der uralten Morgenlieder, der Liebesgesänge an den Himmel, mit denen die Liringlas die Zeit einteilten, so lange sie zurückdenken konnte.
»Nicht mein Lieblingslied«, sagte sie zu ihrem ungeborenen Kind, als sie fertig war, »aber es ist das erste, das meine Großmutter mir beigebracht hat. Wir müssen sie nacheinander lernen. Du wirst sehen, dass sie eine bestimmte Reihenfolge haben.«
Immer öfter redete sie laut mit ihrem Kind, ihrem einzigen Gefährten im Gefängnis der Gezeitenhöhle. Das Kind war ihr Rettungsanker geworden – der Grund, die Stunden unter Wasser, den Durst und den Hunger auszuhalten.