Achmed rollte mit den Augen. »Wann wirst du je begreifen, dass Buße und Reue für die Taten anderer, die schon lange vor deiner Geburt gestorben sind, einfach nur lächerlich ist? Du kannst die Sünden, die deine Familie damals begangen hat, nicht wieder gutmachen. Wenn du nur weit genug zurückgehst, wirst du dich für alle auf dieser Welt je begangenen Missetaten verantwortlich fühlen. Reiß dich zusammen.«
Ashe antwortete mit einer obszönen Geste. »Du solltest dich zusammenreißen«, sagte er verächtlich.
»Verschone mich mit deiner Galle und Lebensmüdigkeit. Meine Frau würde dir sicherlich nicht zustimmen.« Dann kehrte er zu seiner Nachtwache zurück.
»Nun, wenigstens in diesem Punkt hast du Recht«, gab Achmed zurück und schirmte die Augen ab.
»Rhapsody glaubt, sie muss alle Schmerzen der Welt persönlich heilen. Falls sie noch lebt, wird sie glücklicherweise genug Zeit für die tiefste Erkenntnis haben, dass sie dieses Ziel nie erreichen wird, selbst wenn es wirklich ihres sein sollte.«
»Falls sie noch lebt?«, fragte Ashe und drehte sich wütend zu dem Bolg-König um. »Hast du das eben tatsächlich gesagt?«
»Ja, das war nicht der Ruf des Windes in deinen Ohren«, erwiderte Achmed. »Hast du etwa nicht mitbekommen, dass ihre Gegenwart nirgendwo im Wind zu bemerken ist? Ich finde nichts, was ihrem Herzschlag gleicht. Ich hoffe, ich irre mich, aber du musst der Möglichkeit ins Auge sehen, dass sie tot ist, dass er sie umgebracht hat. Vorher hat er sie sicherlich vergewaltigt, sie dann ins Meer geworfen oder ihren Leichnam mitgenommen. Überlass dich dem Hass, den diese Möglichkeit in dir erzeugt. Durch ihn werden all deine Gedanken auf das gerichtet, was unbedingt zu tun ist – nämlich den F’dor zu finden.«
»Halt«, sagte Ashe. Sein Gesicht blühte unter der Anstrengung auf, den Drachen im Zaum zu halten.
»Rede mit mir nicht über solche Dinge – noch nicht. Ich brauche keine weiteren Gründe, diesen Mann zu hassen, diesen Dämon zu jagen und ihn in Stücke zu reißen. Wenn ich ihn erwische, wird dort, wo er vorher im Wind gestanden hat, nur noch ein Schatten sein. Du stachelst Kräfte in mir an, die ich bereits täglich zu unterdrücken versuche. Entflamme nicht meinen Zorn für deine eigenen Zwecke. Du befindest dich auf dünnem Eis, egal ob du versuchst, meine ganze Aufmerksamkeit auf das nächste Ziel zu richten, oder mich nur quälen willst, weil ich sie dir weggenommen habe.«
Achmed öffnete den Mund und wollte etwas darauf erwidern, doch dann kniff er die Lippen rasch wieder zusammen. Er seufzte verärgert.
In der Nähe ihres Feuers wanderte ein abgerissener alter Mann ziellos umher und zeichnete mit einem langen Stück Treibholz unförmige Muster in den nassen Sand. Dabei warf er ein wenig Sand auf das Feuer, das aufzischte und zu erlöschen drohte.
»Geh weg von hier«, rief Achmed, doch der zerlumpte Mann beachtete ihn nicht. Er fuhr fort, seine unsinnigen Zeichen in den Sand zu schreiben.
Achmed schlenderte hinüber zum Feuer und stellte sich zwischen es und den alten Sandkünstler.
»He!«, rief er. »Wärm dich, wenn du willst; ansonsten geh fort von hier.«
Der Mann wandte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Achmed bemerkte, dass seine Augen mit grauem Altersstar umwölkt waren. Sie wirkten wie an der Oberfläche verbrannt, was vielleicht auch der Sonne zuzuschreiben war. Die Iris hatte wie die Haut und das lange, ungekämmte Haar die Farbe von Treibholz. Nun erkannte der Bolg-König, dass der alte Mann vorhin in einer Sanddüne am Rande des Wassers geschlafen hatte, seit sie beide hier waren. Achmed hatte ihn mit Treibgut verwechselt.
Endlich hatte es den Anschein, als habe er Achmeds Befehl verstanden. Der Mann wandte sich ab und ging zielstrebig ins Meer hinein.
»Was ... was hast du zu ihm gesagt?«, fragte Ashe ungläubig und sah zu, wie die gebrechlichen Beine in den Wellen verschwanden. Die Brandung gewann an Macht; es war unbegreiflich, dass ein so gebrechlicher Körper wie der des alten Mannes nicht sofort umgeworfen wurde.
»Halt! Komm da heraus!«, rief Achmed. Er ächzte verärgert, als er sah, dass der alte Mann ihn nicht gehört hatte, und folgte ihm schließlich widerstrebend in die flache Brandung.
»Komm aus dem Wasser, du alter Narr«, brummte er. »Ich werde dich nicht herausfischen, wenn du von der Strömung erfasst wirst.«
Nun sprach der alte Mann. Seine Stimme wurde von einer herbeiströmenden Windbö zu den beiden Regenten getragen.
»Ich kenne euch nicht«, sagte er. »Geht fort.«
»Komm aus dem Wasser.«
Der alte Knabe kauerte sich in die Brandung. Er drehte sich langsam zu den beiden Männern um. Es war nicht zu erkennen, ob das Zucken auf seinem Gesicht eine böse Grimasse oder ein Lächeln war. Dann erhob er sich wieder, drehte sich in Richtung der See und ging weiter.
Als er schon bis zu den Waden in der Brandung stand, rannte Achmed los, um ihn einzufangen. Der Dhrakier packte den alten Mann am Arm.
»Was machst du da? Bist du taub?«
Das uralte Gesicht wandte sich Achmeds Hand zu, die noch den Arm im Griff hielt, und der alte Mann machte einen weiteren Schritt voran. Nun stand er schon knietief im Wasser. Achmed packte ihn bei der Schulter, drehte den Körper des alten Mannes um und zog ihn fort von der Tiefe.
»Verletze ihn nicht«, rief Ashe und schaute auf die Zeichnungen, die der alte Mann im Sand hinterlassen hatte.
Achmed war sich nicht einmal sicher, ob der Alte ihn sehen konnte. Aus den Augen war beinahe alle Klarheit verschwunden. Doch als er nach ruhigen, harmlosen Worten suchte, glaubte er, in den umwölkten Augen einen Blitz des Wiedererkennens zu bemerken.
Plötzlich hatte er keinen Boden mehr unter den Füßen. Vielleicht war es eine Welle gewesen oder ein Bein, das ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Er hatte kaum Zeit, Luft zu holen, bevor sein ganzer Körper untertauchte.
Der Hass auf Wasser überwältigte seine Sinne, und er versuchte sich mit den Ellbogen vom kiesigen Meeresboden abzustützen und aufzustehen, doch er spürte, wie die Knie des alten Mannes gegen seine Unterarme drückten, und begriff plötzlich, dass es keine zufällige Welle gewesen war, die ihm die Beine weggezogen hatte.
Er wurde absichtlich ertränkt.
Achmed kämpfte darum, ruhig zu bleiben, denn die Panik drohte ihn zu verschlingen. Er machte einen weiteren Versuch, den Mann zu überwältigen, der ihn unter die Wellen drückte, doch es war, als wolle man den ganzen Ozean aus den Angeln heben.
Als das klatschende Geräusch ertönte, schaute Ashe auf. Achmed war verschwunden. Der alte Mann kniete beinahe im Wasser. Er hatte sich vornüber gebeugt, und sein Gesicht war ruhig und ausdruckslos. Ashe ging einen oder zwei Schritte in die Brandung hinein, dann erst sah er Achmeds ausschlagende Beine unter dem Wasserspiegel. Er legte die verbleibende Strecke rennend zurück, zog Kirsdarke und zielte damit auf das Ohr des alten Mannes.
»Lass ihn los!«, befahl er.
Nie zuvor hatten einem Mann nicht Atem und Herz gestockt, wenn sich Ashe mit Drachenaugen und dem korallenblauen Schwert über ihm aufgetürmt hatte. Doch der alte Mann streckte eine Hand wie eine aufschießende Boje aus dem Wasser und packte Ashes Handgelenk. Mit der anderen entwand er ihm gleichzeitig das Schwert, wobei kaum ein Tropfen Wasser aufspritzte. Ashe zuckte zusammen. Wie eine Welle schoss es ihm durch Hand und Arm. Kirsdarke war fort und befand sich nun im dem knochigen Griff des alten Mannes.
Er musste sich nicht erst umdrehen, um zu wissen, dass das Schwert nun gegen seinen eigenen Hals gerichtet war. Er fluchte stumm, packte Achmeds Robe und zog ihn aus dem Wasser. Unter Wasser spürte Achmed mit geschlossenen Augen einen Tumult, der sicherlich von Ashes Schritten herrührte. Als er erkannte, dass er sich nicht selbst befreien konnte, zwang er sich zur Ruhe und wartete darauf, dass Ashe angriff und ihm das Entkommen ermöglichte. Noch während er den Kampf im rauschenden Rhythmus der Wellen um ihn herum einstellte, hörte er einen großen Lärm, einen Herzschlag wie eine Glocke, den er nicht mehr gehört hatte, seit er Serendair verlassen hatte.