Er sah auf zu den hohen Türmen von Jierna Tal hinter der großen Waage. Sie erhoben sich stolz in den Himmel und waren zum Glück frei von ausdörrenden Leichnamen oder anderen grässlichen Verzierungen. Man musste zugeben, dass es ein wunderschöner Palast war, ein Ort visionärer Architektur, welcher die Stadt über die kleine Ansammlung von Viehmärkten, Straßenbuden, Leinenwebereien und schäbigen Gebäuden erhob, in denen die Bevölkerung Unterschlupf fand. Man hätte ihn sogar als großartig beschreiben können.
Eines Tages, dachte er, wird man ganz Sorbold mit diesem Wort beschreiben.
Eines nahen Tages.
Sein Blick fiel auf die Waage. Ihre goldenen Schalen glänzten hell im Sonnenlicht. Er schloss die Augen und erinnerte sich mit Vergnügen an das Gefühl, das er bei ihrer Zustimmung empfunden hatte, an den Luftzug, als er hochgehoben worden war und ihren Beifall erhalten hatte.
Noch ein paar Tage, dachte er und betastete die violette Schuppe in seiner Tasche. Er genoss ihre Wärme und ihre summenden Schwingungen. Ich warte auf den Mond.
Er schritt die Verandastufe hinunter und trat über einen Bettler hinweg, der vor ihr lag, dann schlenderte er in das Licht des Marktplatzes, ohne jemanden wahrzunehmen.
Die Menge umspülte ihn, als sei er gar nicht da.
Der Seneschall hielt die Kerze in der fahler werdenden Dunkelheit hoch und versuchte zu vermeiden, dass das Wachs auf das Kind oder in den behelfsmäßigen Teich aus glimmendem grünem Wasser tief im Innern des Schiffes tropfte.
Das Schiff schwankte plötzlich, als ein Brecher es traf. Die Strömung des Nördlichen Meeres war außerordentlich trügerisch und machte die Einfahrt in den Hafen dieser Provinz des Drachenlandes schwierig. Der Schiffsrumpf erzitterte. Faron quiekte auf, als das Wasser in kleinen Brechern um ihn schlug.
»Ruhig, Faron, ganz ruhig«, besänftigte der Seneschall ihn und versuchte seine eigene Ungeduld und die des Dämons zu ersticken. »Hab keine Angst. Lies die Schuppen und sage mir, ob wir hier in den Hafen einlaufen können. Wartet etwas auf uns, oder haben wir freie Einfahrt?«
Die Kreatur kämpfte um ihr Gleichgewicht; die weichen Knochen und schlaffen Muskeln hatten dem schlingernden Schiff nichts entgegenzusetzen. Mit zitternden, knorrigen Händen hielt Faron eine jadegrüne Schuppe hoch zum flackernden Kerzenlicht. Die großen, wässerigen Augen blinzelten rasch in der abwechselnden Helligkeit und Dunkelheit. Schließlich schüttelte das Geschöpf den Kopf.
»Nein?«, wollte der Seneschall wütend wissen. »Im Namen der Leere, warum nicht? Siehst du Gefahr oder Widerstand in den Wellen verborgen? Kommt etwas auf uns zu?«
Das Kind schaute ihn entsetzt an und nickte heftig.
»Bist du sicher?«
Faron ächzte und nickte abermals, dann verschwand er unter der Scheibe aus grünem Wasser. Der Seneschall löschte das Licht und ertastete sich den Weg zur Leiter. Er kletterte an Deck, erspähte den Kapitän und schrie gegen den Wind: »Kurswechsel! Abdrehen, weiter nordwärts, die Küste entlang, bis wir das Riff von Gwynwald erreichen!« Er wischte sich den Wind aus den hellblauen Augen und blinzelte in die gleißende, brennende Sonne.
Der Kapitän starrte ihn an, als sei er verrückt.
»Euer Ehren, dort können wir nirgendwo Anker werfen. Avonderre hat einen geschützten Hafen und einen Leuchtturm, der uns vor den Untiefen warnt. Wir können das Schiff nicht mehr umdrehen.« Er fuhr sich mit der Hand an die Stirn und schaute nach Osten zum Strand. »Außerdem werden wir bereits empfangen.«
Der Seneschall stolperte zur Reling und blickte in dieselbe Richtung wie der Kapitän. Ein kleiner Kutter aus der Flotte des Hafenmeisters flog ihnen entgegen und setzte die Flagge des Anlegens.
Säure spritzte dem Seneschall in die Kehle. Er fluchte leise in Worten, die nur den F’dor bekannt und für die Menschen unaussprechbar waren. Er hatte genau das befürchtet. Die Basquela hatte keine gültigen Anlegepapiere für Avonderre oder einen anderen orlandischen Hafen; sie besaß nicht einmal die Erlaubnis, in irgendeinem Hafen des cymrischen Bündnisses vor Anker zu gehen. Die Gefahr, durch den Hafenmeister in eine kritische Lage zu geraten, war bei der Abreise wegen der notwendigen Eile verdrängt worden. Quinn hatte ihn davor gewarnt, als er die Basquela gemietet hatte, aber er hatte nicht auf die Corona warten wollen.
Und nun hatte es den Anschein, als würden sie noch vor den avonderianischen Gewässern von der Mannschaft des Hafenmeisters aufgebracht.
»Werft den Anker aus«, befahl der Kapitän der Mannschaft.
Der Seneschall wandte sich an Caius, der wie immer seine Armbrust säuberte und ausbesserte.
»Gib leise Quinn Bescheid und sag ihm und den anderen, sie sollen sich bereit halten«, flüsterte er dem Schützen zu, während sein Bruder und der Vogt des Seneschalls in der Nähe zuhörten. »Ich glaube, bald wird sich ein unglücklicher Seeunfall ereignen.«
Die lodernden Flammen in dem gewaltigen Kamin verbargen beinahe Dranths Ankunft. Der zweitwichtigste Mann der Gilde war es gewohnt, ohne Angst in die Nähe der Meisterin zu kommen. Er war der Offizier, dem sie am meisten vertraute, und er glaubte, sie schätzte seine Aufrichtigkeit. Doch seit der Zerstörung vor drei Jahren war sie unberechenbar geworden, was sich in der letzten Zeit noch verschlimmert hatte. Jetzt war sie ganz besonders wütend, denn bisher war es keinem ihrer Spione gelungen, die Verteidigungslinie der Firbolg zu durchbrechen. Entgegen ihren Wünschen wurde das Bohren fortgesetzt. Nicht einmal der Aufruhr, der infolge der Auffindung eines halb aufgefressenen Kindes in der Wüste nahe dem Bolg-Lager eingesetzt hatte, konnte die Ausgrabungen verhindern. Nach einigen Stunden war der Tumult aufgelöst worden. Man hatte die Bolg entlastet, und die menschlichen Schafe von Yarim Paar waren auf ihre Beobachtungsposten vor den Bohrzelten zurückgekehrt und hatten Estens Mörder davon abgehalten, die Arbeiten zum Stillstand zu bringen.
Sie war erzürnter, als er es je bei ihr gesehen hatte.
In Estens Nähe zu sein, wenn sie so wütend war, glich einem Spiel mit den Säuren, die in der Ziegelei verwendet wurden. Es war nicht die Frage, ob man sich Verbrennungen zuzog, sondern wann es geschah und wie schlimm sie waren.
Er räusperte sich leise.
Esten schien ihn nicht zu hören. Sie starrte in das brüllende Feuer, hatte das Kinn auf die Faust gestützt und dachte nach. Das lange schwarze Haar, das frisch gewaschen und noch feucht war, hing ihr bis auf die Knie und schimmerte im tanzenden Licht. Es war ein dunkles und zugleich schönes Bild. Für einen Moment sah Dranth vor den Feuerschatten die Frau in ihr. Dann kehrte sein Verstand zurück, und er erinnerte sich daran, wo er war.
Und wer sie war.
Und was sie war.
Er würde nie die erste Begegnung mit ihr vergessen. Er war ein bissiger Bengel gewesen, das Kind eines yarimesischen Handwerkers und einer dunklen Lirinpan-Mutter; beide waren schon lange tot. Sie hatte gerade in einer Hintergasse des Inneren Marktes einen Soldaten ausgeweidet, der viermal so umfangreich wie sie selbst gewesen war. Eine kleine, grobe Klinge hatte aus seiner Kehle geragt und eine andere sich wie gefangenes Licht in ihrer Hand bewegt. Der Blick, den sie Dranth geschenkt hatte, war so erschreckend gewesen, dass er nur zurückgetreten war und verwundert zugesehen hatte, wie sie ihre scheußliche Arbeit vollendet hatte. Die Klinge war mit einer Geschwindigkeit umhergeflogen, die von frühreifem Talent, angeborener Beweglichkeit und vollkommenem Fehlen von Furcht herrührte. Dranth waren die Künste des Messers nicht unbekannt gewesen, doch an jenem Tag, in der dunklen Hintergasse, hatte er die Geschickteste Meisterin des Mordes beobachtet, die er je gesehen hatte.