Da war sie acht Jahre alt gewesen.
Er verfluchte sich selbst. Der kurzzeitige, unrichtige und gefährliche Eindruck von Menschlichkeit und gefühlvoller Weiblichkeit hatte ihn schwindlig und schwach gemacht. Es war, als sei er achtlos an einem Abgrund entlanggeschlendert und habe in ihm lediglich einen Bewässerungskanal gesehen. In der Dunkelheit hatte er ihn nicht als das erkannt, was er war.
Dranth räusperte sich erneut, diesmal lauter.
»Ein Besucher, Gildenmeisterin.«
Schließlich drehte sich Esten um und schaute ihn an. Ihr Blick war so verschlingend wie der Wüstensand, der angeblich die legendäre Stadt Kurimah Milani vor mehr als tausend Jahren unter sich begraben hatte. Dranth deutete in die Finsternis und befahl der jungen Frau, näher zu kommen. Sie erschien wie ein bleicher Geist, von Kopf bis Fuß in einen hellblauen Ghodin gehüllt. Ihr Gesicht war in den Feuerschatten weiß. Ein Zittern lief durch den Stoff ihres Zeremonialkleides, das wie das Segel eines Schiffes in stürmischer See wirkte. Dunkle Locken, die einzigen sichtbaren Haare, lugten über ihrer Stirn hervor und rahmten ihr Gesicht ein.
Esten ergriff ihre eigenen langen Locken, band sie mit einer blitzschnellen Bewegung im Nacken zu einem Knoten zusammen und richtete sich ruhig auf, während die größere Frau näher kam.
»Nun, das ist wirklich eine Ehre«, sagte sie. Gift troff aus jeder Silbe. »Eine Shanouin-Priesterin hat sich zu einem Besuch bei mir herabgelassen. Wie bemerkenswert. Wie lautet Euer Name, Heiligkeit?«
Die große Frau machte die Schultern breit und faltete die Arme unter dem fließenden Gewand.
»Tabithe, Gildenmeisterin.« Ihre Stimme war sanft und ehrfurchtsvoll.
»Was wollt Ihr von mir?«
Die Priesterin hustete und entschuldigte sich für die Störung mit einem Nicken. »Ich bin gekommen, um für das Leben meiner Schwiegermutter zu bitten«, sagte sie.
»Aha. Und wer soll das sein?« Esten verschränkte die Arme vor der Brust und ahmte die Haltung der Priesterin nach.
Die Shanouin-Frau hustete erneut, diesmal tiefer aus der Brust heraus. Es war ein rasselndes Geräusch, das auf Rotlunge hindeutete, eine weit verbreitete Krankheit bei dem nach Brunnen grabenden Klan.
»Mutter Julia«, sagte sie schließlich.
Esten drehte kleine Kreise zur Linken der Frau und nickte übertrieben. Die Priesterin blieb stocksteif stehen und hatte den Blick auf das Feuer gerichtet, während die Gildenmeisterin weiter umherlief. Dann hielt Esten unmittelbar vor ihr an. Sie beugte sich vor. Ihr Gesicht verzog sich zu einem dunklen Lächeln.
»Zu spät«, sagte sie.
Die Frau erblasste, doch ansonsten veränderte sich ihr Gesichtsausdruck nicht.
»Ehrlich, Gildenmeisterin, Ihr beliebt zu scherzen?«
»Ehrlich, Euer Heiligkeit, ich scherze nie.«
Die Frau schwieg für eine Weile und seufzte dann tief.
»Darf ich dann um den Leichnam bitten?«
Esten schnaubte. »Ich bezweifle, dass Ihr ihn in diesem Zustand sehen wollt, Tabithe. Mein Haar ist noch feucht vom Auswaschen des Blutes. Ich schlage vor, Ihr kehrt zu Eurem Gemahl zurück. Welcher aus dem Wurf der verfluchten Quacksalberin ist es denn?«
»Thait, Gildenmeisterin.«
»Ah. Nun, ich schlage vor, Ihr kehrt zu Thait zurück und sagt ihm, seine betrügerische Mutter ruhe in Frieden – oder eher in Stücken. Ich habe ihm einen Gefallen getan, indem ich eine solche Fäulnis aus seiner Familie getilgt habe.«
Die blasse junge Frau kämpfte um Haltung. »Ich habe Informationen, die mir wertvoll erscheinen, Gildenmeisterin«, sagte sie. Ihre Stimme verriet sie ein wenig.
»Wirklich? Das ist interessant. Deine Schwiegermutter hatte keine. Daher rührt ihr augenblicklicher Zustand.«
Die Priesterin nickte. »Ich hatte keine Gelegenheit, es ihr oder sonst jemandem mitzuteilen«, sagte sie zögernd. »Ich bin erst heute Nachmittag darauf gestoßen. Ich bin zu Mutter Julias Haus gegangen, um es ihr zu sagen, aber ...«
»Was ist es für eine Information?« Der Tonfall der Gildenmeisterin wurde plötzlich eindringlich. Tabithe blinzelte mehrmals; ansonsten war ihr Gesicht eine Maske. Sie sog die Luft ein und kniff die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen; dann sagte sie: »Als Gegengabe möchte ich den Leichnam meiner Schwiegermutter haben, Gildenmeisterin.«
Bevor sie wieder ausatmen konnte, lag ein Dolch an ihrer Kehle. Die Klinge war aus einer Lederscheide an Estens Handgelenk gesprungen und drückte sich so fest gegen den Hals, dass Tabithe die Luft anhielt. Bei der nächsten Bewegung würde die Haut reißen. Estens Geschick mit Messern war berühmt, und es hieß, dass sie ihrem Opfer noch vor dessen nächstem Herzschlag die Halsschlagader durchtrennen konnte, sobald sie sich entschieden hatte, das Messer einzusetzen.
»Sprecht, Heiligkeit. Es dient nur Eurer dauerhaften Gesundheit.«
Die Frau zuckte zusammen. »Ich habe heute Wasser am Arbeitszelt der Bolg abgeliefert.«
Die Klinge verschwand; die Priesterin seufzte auf und holte tief Luft. Die glänzenden schwarzen Augen befanden sich ihr unmittelbar gegenüber.
»Was habt Ihr gesehen?«
»Sehr wenig. Die Klappe war nur einen Augenblick lang offen.«
Die Stimme wurde zu Eis. »Warum glaubt Ihr, dass Ihr damit die Stücke Eurer Schwiegermutter erkaufen könnt?«
»Ich ... ich habe den Firbolg-König gesehen«, stammelte die Shanouin. »Er steckte in schwarzen Gewändern, seine Augen hatten unterschiedliche Farben, und die Gesichtshaut war von Adern durchzogen. Es war ein unheiliger Anblick.«
Die schwarzen Augen verengten sich. »Und Ihr glaubt wirklich, dass mich das interessiert? Ich weiß, dass der Bolg-König hier ist und dass er scheußlich aussieht. Beides ist allgemein bekannt. Ihr stellt meine Geduld auf die Probe.«
»Hinter ihm arbeiteten die Bolg mit einem gewaltigen Bohrer, etwa ein halbes Dutzend von ihnen drehten an der Kurbel einer Maschine. Sie hatte große Metallräder mit Zähnen daran, die wie Webfäden ineinander griffen.«
»Zahnräder.« Esten trat einen Schritt zurück. »Ich höre.«
»Ich konnte den Bohrer sehen«, meinte Tabitha. »Zuerst habe ich nicht begriffen, was es war. Ich habe noch nie einen von solch einer Länge und Breite gesehen. Er war gebogen wie eine Talgkerze und wurde von der Maschine in den Boden getrieben. Es war kein bloßer Stampfer, wie wir ihn benutzen.«
»Ist das alles?« Esten lief in den Schatten hin und her, tauchte in das Licht ein und aus ihm weg.
»Ich glaube, er war aus Stahl, Gildenmeisterin«, fuhr die Priesterin unter Aufbietung allen Mutes fort.
»Aus Stahl, der sowohl schwarz als auch blau geleuchtet hat.«
Jedes Geräusch floh aus dem Raum, als Esten stehen blieb. Sie wandte sich langsam zu der Priesterin um.
»Sagt das noch einmal«, verlangte sie ruhig.
Tabitha schlang unter dem blassblauen Ghodin die Arme enger um sich. »Der Bohrkopf, den die Bolg benutzen, ist aus blau-schwarzem Stahl geschmiedet, ähnlich wie die dünne Scheibe, die Ihr beschrieben habt«, stammelte sie. Sie stand schweigend da, während Esten den Boden anstarrte. Tabitha hatte keine Ahnung, worüber die Gildenmeisterin nachdachte, doch sie erkannte, dass Esten eine gewaltige Erleuchtung hatte.
Schließlich schaute die Gildenmeisterin wieder auf. Die Überlegungen, die sie noch vor einem Moment beschäftigt hatten, spiegelten sich nicht länger in ihren Augen wider.
»Vielen Dank, Euer Heiligkeit«, sagte sie höflich. »Eure Information ist wirklich wertvoll, und Ihr werdet eine hübsche Belohnung dafür erhalten.« Sie wandte sich an den Kronprinzen. »Dranth, such die Teile von Mutter Julia zusammen und lass ihren Leichnam in feines sorboldisches Leinen einwickeln. Leg ihn für Ihre Heiligkeit auf einen Wagen und bring ihn zu Thaits Haus.« Sie richtete den Blick wieder auf die Priester in, während sie ihren letzten Befehl gab. »Verlange von ihm nur die niedrigste Zustellgebühr.«