Vor dem Schlafgemach gingen die Palastdiener still der Vollendung ihrer täglichen Aufgaben nach. Sie zauberten die Kleider der Kaiserin fort, damit sie gewaschen und gebügelt werden konnten; sie warfen die noch frischen Blumen in Dutzenden von Porzellanvasen fort, damit Ihre Durchlaucht am Morgen von neuen Blüten erfreut wurde; sie schafften die Tabletts mit den Überresten des Abendessens weg – für eine kleine, verhutzelte Frau, die kaum mehr als eine Feder wog, hatte die Kaiserin einen Appetit, der selbst einen Seemann oder einen Gladiator beschämt hätte – und klopften den Wüstensand aus den dicken, dicht gewobenen Teppichen und Gobelins, die an den hohen Korridorwänden hingen. Einige Korridore entfernt spielte ein Violinquartett süße Musik. Sie erklang so gedämpft, dass sie die Kaiserin nicht störte, während sie in den Schlaf gewiegt wurde. Trotz der Vorsicht, mit der sich die Diener bewegten, hörte die Kaiserin sie. Das war der Fluch ihrer Herrschaft. Der Palast von Jierna Tal mit seinen hohen Türmen und dicken Mauern, Befestigungen und Verteidigungsanlagen stand schon so lange unter ihrer Herrschaft und der von vielen Generationen ihrer Vorfahren, welche die Krone an sie weitergereicht hatten, dass er Teil ihres Bewusstseins geworden war, so wie alles, was sich im Reich Sorbold zutrug. Sie bemerkte sogar die Ablösung der Wache, deren ausschließliche Pflicht es war, die Festung vor allen Störungen zu bewahren. Sie seufzte verärgert und zog sich die schimmernde Decke bis zum faltigen Hals.
»Guten Abend, Euer Durchlaucht. Ich hoffe, Ihr ruht wohl.«
Die forsche und ferne Stimme kam aus der Dunkelheit selbst.
Die Kaiserin setzte sich erschrocken auf – oder sie versuchte es wenigstens. Statt ihrer gewöhnlich leichten Bewegungen war es ihr diesmal nur noch möglich, den Rücken zu straffen. Die Arme lagen nutzlos an den Seiten, die vom Alter gefleckten und verkrümmten Hände ruhten reglos am glatten Rand der dicken Decke. Sie öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch der Kiefer war steif und unmöglich zu öffnen.
Ein leises, violettes Glimmern neben dem Fenster zog ihren Blick an. Kurz darauf hatte es die Dunkelheit verschluckt.
In den Schatten erschien die Gestalt eines Mannes vor dem hellen Licht des Vollmonds. Zuerst erkannte die Kaiserin ihn nicht. Er hatte dasselbe schwerfällige, dunkle und bärtige Gesicht wie die meisten ihrer Untertanen, doch in den Augen lag ein Leuchten, das sie nie zuvor gesehen hatte. Sie spürte Kälte durch ihren Körper fließen, doch sie zitterte oder bebte nicht. Sie lag bloß totenstill da. Die Gestalt näherte sich ihrer Bettstatt, blieb kurz stehen, um die reich beschnitzten Pfosten aus Mahagoni zu betrachten, und setzte sich schließlich neben sie auf die Federmatratze. Sein Körper hinterließ keinen Abdruck in der bauschigen Decke; es war, als habe er weder Masse noch Gewicht. Der Mann neigte sich vor und hüllte die Kaiserin sanft in die Decke, wobei er viel Mühe darauf verwandte, die seidigen Laken unter ihren reglosen Armen zu glätten. Dann lehnte er sich zurück, legte den Kopf schräg und betrachtete sie, als wäre sie ein Kunstgegenstand oder ein bemerkenswertes Tier in einer Menagerie. Als er schließlich sprach, war seine Stimme sanft und so warm wie der Wüstenwind.
»Falls es Euch interessiert – die Glocken, die Ihr bald hören werdet, rufen die kaiserlichen Heiler an das Bett Eures nutzlosen Sohnes, des Kronprinzen.«
Die Kaiserin riss die Augen weit auf. Es war die einzige Bewegung, zu der sie noch fähig war. Der Schattenmann kicherte still.
»Ja, es stimmt. Euer blonder, bleichgesichtiger Junge ist tot. Aber verzweifelt nicht, Ihr werdet ihm unverzüglich in die Gruft der Unterwelt folgen; also braucht Ihr nicht vorzugeben, um ihn zu trauern. Ich weiß, dass Ihr ihn genauso verachtet wie der Rest der sorboldischen Bevölkerung.«
Die Kaiserin blinzelte rasch... ihr Atem ging flach und rasselnd.
Die Gestalt bewegte sich leicht. Ein Mondstrahl vom Balkonfenster fing sie ein. In diesem Licht sah die Kaiserin, dass er durchsichtig war. Die Farben seiner Robe schimmerten, als das Mondlicht durch sie fuhr – und durch seine Haut, seine Haare und sein Gesicht.
Nun erkannte sie ihn.
Ihr Herz raste schmerzhaft und hämmerte laut in Brust und Ohren.
Der durchsichtige Mann bemerkte ihr Entsetzen und klopfte ihr freundlich auf die steifen Hände.
»Beruhigt Euch, Kaiserin. Dies ist für uns beide eine bedeutsame Erfahrung. Euer Sohn, nun, das war wirklich bedauerlich und kaum beeindruckend. Ich habe ihm das Geburtsrecht sowie seine geringe Autorität und sein Wissen ohne eine Spur von Kampf genommen. Im Sterben war er genauso enttäuschend wie im Leben. Aber Ihr, Leitha – wenn ich Euch so anreden darf -, seid eine Löwin, nicht wahr? Eure schuppenartige Klaue hat selbst die Zeit angehalten, als der Tod Euch schon vor Jahrzehnten holen wollte. Durch schieren Willen habt Ihr am Thron von Sorbold und an Eurem Leben festgehalten und Eure Entschlossenheit auf das Großartigste unter Beweis gestellt. Ich freue mich darauf, diese Probe zu wiederholen.«
Der kleine, verschrumpelte Körper der Kaiserin erbebte heftig, doch jetzt war es eher Wut als Angst. Der Mann erkannte die Veränderung in ihren Augen und lächelte breit.
»Viel besser! Wappnet Eure Seele, Kaiserin. Ich bin gekommen, um sie zu holen.«
Der Mann ließ die Hand der Kaiserin los und stand von dem Bett auf. Er holte ein leuchtendes, purpurnes Oval aus der Tasche. Es war die Schuppe, die er vor so langer Zeit in dem Wrack des cymrischen Schiffes gefunden hatte. Sie erglühte im Licht des Mondes, und die Runen leuchteten aus eigener Kraft.
Er starrte seine Beute lange an, ergriff dann die Seidendecke am unteren Ende des Bettes und zog sie von den Füßen der Kaiserinwitwe, die in weißen, leinenen Bettschuhen steckten. Er hob einen Fuß an, zog den Schuh aus und nahm den Fuß in die Hand. Die Kaiserin erzitterte.
»Ah. Das ist der Fuß, der so lange auf dem Genick des Volkes gestanden hat. Erstaunlich klein bei dieser zerschmetternden Gewalt«, sann er und fuhr mit dem Finger sanft über die dicken gelben Schwielen, die seilartigen, rosigen Adern und die trockene, vor Alter pergamentweiße Haut. Er hielt der Kaiserin die Schuppe vor die Augen. Seine eigenen leuchteten so hell wie die Runen.
»Dies, Kaiserin, ist ein Neuanfang. Eine ganze Dynastie verschwindet vor Euren Augen. Das göttliche Recht der Könige, das Euer Vorfahr vor drei Jahrhunderten für sich beanspruchte, vergeht nun wie das Licht einer sterbenden Fackel und muss einem neuen, stärkeren Lodern weichen, das genügend Brennstoff besitzt, um vor allen Nationen zu scheinen.«
Das Glimmen in seinen Augen wurde grausam.
Er packte den Absatz der Kaiserin mit einem brutalen Griff und drückte ihn wie mit einer Eisenklaue. Die alte Frau kreischte innerlich auf. Sie konnte den Mund noch immer nicht öffnen, und ihre Kehle war gelähmt und vermochte keinen Laut hervorzubringen.
Die schimmernden Lichtwellen, die von der Schuppe in seine Hand flössen, pulsierten kurz und leuchteten dann noch heller.
Aus dem Absatz der Kaiserin trat ein dünnes Lichtrinnsal aus, zerfasert wie ein staubiger Sonnenstrahl. Er schwebte einen Moment lang gestaltlos in der Luft und schoss plötzlich in die Schuppe hinein.
Der durchscheinende Mann legte den Kopf zurück. Seine Schultern zuckten heftig, während ein Ausdruck der Freude über sein Gesicht kroch.
Bald richtete er sich wieder auf und sah hinunter auf die zuckende alte Frau. Er ließ ihren Fuß los, der mit einem hässlichen dumpfen Laut auf das Bett zurückfiel. Die Ferse war hohl und ausgetrocknet; puderige Haut hing lose an den Knochen herab.
Seine Augen funkelten, als er mit den Fingern über das Bein der Kaiserinwitwe strich und die schrumpelige Haut betastete, die nur wenige Stunden zuvor mit einem Balsam aus kostbaren Ölen und Ambra eingerieben worden war.