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So wartete er unsichtbar, bis die Glocken in der Halle wie rasend schlugen, und sah zu, wie sich ein Ausdruck des Verstehens in das Starren der alten Frau schlich.

In den letzten Augenblicken ihres schwindenden Bewusstseins hörte die Kaiserin die geflüsterten Worte auf der anderen Seite der schweren Mahagonitür, die von einer Tränenerstickten Stimme gesprochen wurden.

»Sollen wir sie wecken?«

Es folgte eine lange Stille, die schließlich von den letzten Worten durchbrochen wurde, welche die Kaiserin je hören sollte.

»Nein, sie soll schlafen. Der Morgen kommt früh genug. Geben wir ihr wenigstens noch eine Nacht des Friedens, bevor wir ihr sagen, dass ihr Sohn verstorben ist.«

17

Gastgemächer im Gerichtsgebäude — Yarim Paar

»Komm herunter vom Balkon, Aria.« Rhapsody schaute über die Schulter und lächelte. »Ich warte auf die Abenddämmerung, damit ich meine Gebete singen kann«, sagte sie und wandte sich wieder dem Anblick des beinahe leeren Platzes und der trockenen Felsformation in seiner Mitte zu. Die fünf Tage, die Achmeds Meinung zufolge noch verstreichen mussten, bevor das Wasser zurückkehrte, waren gekommen und gegangen. Grunthor war noch drei weitere Tage geblieben, bis der Mond voll war, und brach dann kopfschüttelnd zur canderianischen Grenze auf.

»Keine Ahnung, was es zurückhält«, murmelte er, als er auf Felssturz, sein Reitpferd, stieg. »Sollte schon längst da sein.«

»Sei vorsichtig, wenn du allein an den Minenlagern im Westen vorbeireitest«, sagte Rhapsody und reichte ihm ein Halstuch mit einem Knoten darin. »Das ist eine ziemlich raue Gegend.« »Oh, ich erbebe.«

Rhapsody lachte. »Sei jedenfalls vorsichtig. Sobald du in die Nähe der Grenze kommst, wird es besser. Die Leute in Canderre sind für gewöhnlich freundlich; und es gibt viele Gehöfte im östlichen Teil der Provinz. Die Gegend erinnert mich an meine Heimat.«

Grunthor streckte die Arme nach unten aus und streichelte ihre kleine Wange mit seiner gewaltigen Pranke. »Pass auf dich auf, Prinzesschen, und mach dich nicht so rar bei uns. Komm mal wieder nach Ylorc. Vermisst du denn nicht Elysian?«

Rhapsody seufzte tief bei der Erwähnung des unterirdischen Hauses in den Bolglanden, wo sie und Ashe sich ineinander verliebt hatten. Es war ein Zufluchtsort für sie beide gewesen, ein Platz fern von der Welt und ihren Sorgen. »Ja, mehr als ich sagen kann. Aber ich vermisse es nicht so sehr wie die Leute von Ylorc. Ich werde euch so bald wie möglich besuchen, Grunthor. Ich kann bloß noch nicht sagen, wann das sein wird. Einige Dinge erfordern meine Anwesenheit in Haguefort.«

»In Ordnung. Na, dann mach es mal gut. Benimm dich.«

»Ich verspreche nichts.«

»Gib der kleinen Nelly ’nen Kuss von mir. Und grüß meinen Kumpel, den jungen Herzog von Navarne. Sag ihm, wenn wir uns das nächste Mal sehen, zeig ich ihm, wie man sich die Zähne mit Feindeshaar sauber macht. Geht natürlich auch mit dem eigenen, aber mit dem von Feinden macht’s mehr Spaß.«

»Ich werde es ihm sagen.« Rhapsody biss die Zähne zusammen, um die Trauer über Grunthors Abreise zu vertreiben. Es schmerzte sie immer, wenn sie von ihm oder Achmed getrennt war, den beiden einzigen noch verbliebenen Leuten, die sie in ihrem damaligen Leben gekannt hatte.

»Was ist das hier übrigens?«

»Eine Erinnerung an Yarim, nur für dich, weil du so nett warst, keinen seiner Einwohner zu verspeisen. Auch wenn ich weiß, dass du stark in Versuchung geführt worden bist.«

»Verdammt richtig«, kicherte Grunthor. »Das war ’ne reine Folter, wie sie immer auf dem Platz gestanden sind. War so, wie wenn man vor ’ner Bäckerei arbeitet und nie reingehen und mal kosten kann ...«

Rhapsody stand noch immer auf dem Balkon und lächelte bei der Erinnerung an diesen Wortwechsel. Sie hoffte, dass Grunthor die kleinen Männer aus Ingwerbrot genossen hatte, die wie die yarimesischen Soldaten mit gehörnten Helmen geschmückt waren. Sie hatte einen kleinen Zettel beigelegt: Iss sie anstelle der Wachen. Sie war sicher, dass ihm der Scherz gefallen hatte. Die Tür schloss sich leise hinter ihr, und sie spürte, wie Ashes Schatten auf sie fiel. Er lauschte oft ihren Vespergesängen, dem Requiem, das die Liringlas für die Sonne sangen, wenn sie hinter den Rand der Welt sank, und sie begrüßten sie in der Morgendämmerung mit einer Aubade, einem Liebeslied an den Morgenhimmel. Er stand immer in respektvollem Schweigen hinter ihr, bis sie geendet hatte. Ashe hatte Lirinblut aus der Ahnenreihe seiner Mutter in den Adern, aber nicht von der Linie der Liringlas. Dennoch wurden alle Lirin Kinder des Himmels genannt; daher erschien es ihm passend, dass er ihre Huldigungen an Sonne, Mond und Sterne, die anderen Kinder des Himmels, teilte.

Sie begann mit der Vesper, einer uralten Melodie in süßen Dur-Intervallen, die rasch zu Moll wurden, zu einem Lied von Trauer und täglichem Verlust, das wieder zu Dur umschwang und ein hoffnungsvolles Ende hatte, ein Faustpfand der Verehrung, das die Nacht über blieb und die Rückkehr der Sonne am Morgen begrüßte. Es war ein Lied, das in den Lirin-Familien von den Eltern an die Kinder weitergegeben wurde. Rhapsodys Lirin-Mutter hatte ihr die Melodie beigebracht. Es war ein zwei Mal täglich stattfindendes Ritual, das ihr nun Trost in der Erinnerung brachte. Ihr menschlicher Vater hatte während der Gebete wie Ashe im Schatten gestanden und der schönen Stimme ihrer Mutter sowie ihren eigenen unbeholfenen Versuchen zugehört, das heilige Lied nachzuahmen. Ihre Brüder hatten der Lirin-Tradition keine Beachtung geschenkt und sich stattdessen im goldenen Licht der Morgensonne mit Feldarbeit abgegeben, womit sie im roten Licht des Abends noch immer beschäftigt waren.

Eine Träne floss an ihrer Wange herab. Sie trocknete rasch im warmen Wind.

Starke, beruhigend starke Arme umfingen sie.

»Schön wie immer. Kommst du jetzt nach drinnen?«

»Gleich.« Rhapsody zog seine Arme stärker um sich und legte den Kopf gegen seine Brust. Sie schloss die Augen und spürte den Wind auf dem Gesicht. Die Hitze des Tages nahm allmählich ab und wich der Kühle der herankommenden Nacht.

Auch mit geschlossenen Augen wusste sie genau, wo der Abendstern am Himmel stand. Die Erinnerung an ihn brannte hell in der Dunkelheit, genau wie an die Menschen, an die sie soeben gedacht hatte, obwohl sie schon lange in das Reich des Nachlebens eingegangen waren. Ashe vergrub das Gesicht in ihrem Haar und sog tief die Luft ein.

»Besorgt? Hast du etwas Beunruhigendes im Wind gespürt?«

Rhapsody hielt die Augen geschlossen und lauschte eingehend. Der Wind war gedämpft und still. Er kam bisweilen in launischen Stößen und erstarb dann wieder zur reglosen Luft des Sommers, nur um im nächsten Moment erneut aufzufrischen. Sie konzentrierte sich und versuchte die Schwingungen zu erkennen, die er mitbrachte.

Wie die Brise, in der sie auf dem windigen Hügel nahe Haguefort gestanden hatte, trug der Wind von Yarim ein Gefühl von Ankunft, von guten Vorzeichen mit sich. Irgendetwas kam. Doch im Gegensatz zu dem Übel, das sie in Navarne gespürt hatte, war dies hier ein sanftes Omen, der Vorbote von etwas Gutem.

Eine Ahnung von Hoffnung, von Fröhlichkeit fuhr ihr durch die Haut und hinterließ ein prickelndes Gefühl.

Sie lehnte sich gegen Ashe und lauschte dem Schlagen seines dreikämmrigen Drachenherzens. Es war ein beruhigendes Geräusch, musikalisch, langsam, wie die Wellen des Meeres. Die Schwingungen in der Luft um sie herum, das Gefühl von Frieden und Glück floss mit dem Herzschlag ihres Seelengenossen zusammen. Es war berauschend. Ihr Gesicht erwärmte sich in dem rosigen Strahlen der untergehenden Sonne.

Sie versuchte, zurück ins Hier und Jetzt zu finden. Wenn sie noch einen Moment länger in Ashes Armen blieb, würde sie in einen Tagtraum gleiten, aus dem aufzuwachen schmerzlich sein würde. Sie würde bis tief in die Nacht auf dem Balkon bleiben und sich an den Lauten der Nacht, dem warmen Wind auf der Haut, der Umarmung ihres Gemahls, seinem Atem auf ihrer Haut und dem würzigen Duft des Sommers erfreuen, der mit den betäubenden Gerüchen des Äußeren Marktes durchmischt war.