»Ich hoffe, du weißt, dass ich nur gehe, weil du es so willst, Aria.«
»Das weiß ich. Deine Gegenwart dort in Zeiten des Aufruhrs wird nicht nur Sorbold, sondern auch dem ganzen Bündnis und dem Rest der Welt nutzen.«
»Wenn du willst, dass ich bei dir bleibe, soll mir der Rest der Welt gestohlen bleiben«, flüsterte er.
Die Schuppen hatten vorausgesagt, dass das kleine Fischerdorf zur Mittagszeit verlassen sein würde.
Wie üblich hat Faron Recht, dachte der Seneschall, als das Ruderboot auf dem Weg zum Strand die Wellen durchpflügte.
Caius, der seekränkere der Zwillinge, saß im Heck, damit er nicht bei jeder Welle schaukelte, und hielt seine Armbrust fest umklammert. Sein Gesicht war grau. Clomyn, der bequem im Bug saß, lenkte den Bootsmann durch Zurufe um die felsigen Ränder der Untiefen, die der Fluch der Fischer an dieser öden Nordküste waren.
Als schließlich die Sonne unmittelbar über ihnen stand und die Welt in wogender Hitze schwamm, die von dem gekräuselten Sand ausging, glitten das Boot des Seneschalls und die drei Beiboote mit Soldaten, die er aus Argaut mitgebracht hatte, an Land.
Er stand lange da und sog das sanfte Rauschen der Wellen ein sowie den Anblick der schwarzen, vernarbten Klippen, die hinter dem Strand hoch in den Himmel ragten, den Schrei der Möwen, das Peitschen des Windes entlang der Küste und den Duft der Vorfreude, die in der Luft hing und auf ihn wartete.
Noch eine Woche, Rhapsody, dachte er. Die Schuppen haben unser Treffen vorhergesagt.
In seinem Geist verspürte er das vertraute brodelnde Gefühl, als der Dämon erwachte und das Bewusstsein wiedererlangte.
Wir sind an Land gegangen, flüsterte die Stimme. In ihrem knisternden Tonfall lag Erregung. Ich will ein Feuer haben.
»Noch nicht«, wandte der Seneschall ein. »Wir wollen die Aufmerksamkeit noch nicht auf unsere Gegenwart lenken.«
Wann beginnen die Brände? Wann beginnt die Vernichtung?
»Bald«, murmelte der Seneschall und versuchte ruhig zu bleiben. Seine Aufregung führte nur dazu, dass der Dämon entflammt wurde. »Aber noch nicht. Wir haben viel zu tun, müssen Pferde kaufen, Pläne schmieden. Es ist besser, wir bleiben unentdeckt, bis wir das gefunden haben, was wir suchen. Sobald sie sicher im Schiff untergebracht ist, werden die Brände beginnen.«
Er bemühte sich, dem darauf folgenden wortlosen, ungeduldigen Gemurmel des Dämons kein Gehör zu schenken, und schaute stattdessen den Männern zu, die die Beiboote ausluden und aus der Brandung zogen.
»Gib den anderen das Zeichen, an Land zu gehen. Wenn alle Männer und Vorräte an Land sind, müsst ihr die Boote am Strand in einer der Felsenhöhlen verstecken, dort wo der Sand aufhört«, befahl er Fergus. »Beeilt euch, wir müssen eine Falle aufstellen.«
Aus einer Höhle in den vulkanischen Klippen weiter nördlich beobachteten schwarze, vom Alter umwölkte Augen, wie die Boote entladen und zwischen den Felsen hinter dem Strand versteckt wurden. Das Schiff zog sich in tiefere Gewässer südlich der Bucht zurück und war bald außer Sichtweite. Die Soldaten kämmten das Gebiet um den Strand ab und machten sich dann langsam auf den Weg nach Osten in Richtung des Waldes.
Wenn einer von ihnen zurückgeschaut hätte, wäre ihm ein alter Mann mit einer treibholzartigen Hautfarbe aufgefallen, der kurz in ihre Richtung blickte, wie irr den Kopf schüttelte und dann wieder damit fortfuhr, sinnlose Zeichen in den Sand zu malen.
20
Achmed verachtete Karten- und andere Glücksspiele schon seit langem.
Ein Grund dafür mochte darin liegen, dass vor langer Zeit in der alten Welt, in jenem anderen Leben, sein wahrer Name in einem Kartenspiel der Bolg aus Serendair gewonnen und vom Gewinner unter Druck Achmeds Feind, dem Dämon, übergeben worden war.
Ein weiterer Grund mochte darin liegen, dass seine dhrakische Mutter von den Bolg mit einem Knochenwürfel für die Gefangennahme ausgewählt worden war.
Doch was immer der wahre Grund sein mochte – was er am Spiel zutiefst verabscheute, war die Unsicherheit des Ausgangs.
Die Erregung, die die anderen Spieler so genossen, überkam ihn nie. Er hasste das Risiko und verbrachte einen großen Teil seines Lebens damit, es so klein wie möglich zu halten. Und obwohl er bei jenen Gelegenheiten in seinem Leben, zu denen er hatte spielen und ein Risiko eingehen müssen, um das zu erlangen, was er haben wollte, öfter erfolgreich als erfolglos gewesen war, bemühte er sich immer noch, jede Ungewissheit zu verringern und immer die Kontrolle zu behalten. Er dachte darüber nach, wie sehr er diese zweideutigen, hilflosen Empfindungen hasste, während er als einziger Abgesandter Ylorcs inmitten anderer Würdenträger und ihres Gefolges auf dem Paradeplatz stand. Von seinem Platz in der Menge der Staatsoberhäupter aus konnte er vieles sowohl über die tatsächlichen Fähigkeiten seiner Mitregenten als auch über die Meinungen lernen, die sie zu verbreiten gedachten, indem er nur die Gefolge im Auge behielt, die sie zum Staatsbegräbnis nach Sorbold mitgebracht hatten.
Das sorboldische Heer hatte sich in seiner ganzen Stärke aufgestellt. Zweifellos wollte es damit den fremden Würdenträgern verdeutlichen, dass es noch die volle Macht innehatte. Achmed zählte zwanzig Divisionen allein auf dem Platz, der den Palast von Jierna Tal umgab, und unzählige Soldaten säumten überdies die Straßen vom Platz der Waage bis zu den Bergen am Rande von Jierna’sid, wo Terreanfor, die verborgene Basilika der Erde, in endloser Dunkelheit stand. Es war eine beeindruckende, gut organisierte und wohl eingesetzte Zurschaustellung von Macht. Grunthor wäre beeindruckt gewesen. Achmed hingegen war lediglich besorgt.
Viele der anderen Staatsoberhäupter einschließlich Tristan Steward, der Herrscher über Roland, Miraz, der Seligpreiser von Hintervold, Viedekam, einer der Häuptlinge aus der Neutralen Zone, und Beliac, der König von Golgarn, dessen Grenze weit im Osten der Zahnfelsen an sein eigenes Reich stieß, hatten gewaltige Gefolge mitgebracht. Es war diese Protzerei, die Achmed das Gefühl eingab, er befinde sich bei einem Kartenspiel. Das stille Angeben, das Abstecken der eigenen Positionen und die Aufgeblasenheit ärgerten ihn über alle Maßen.
Tyrian, das lirinische Reich, von dem Rhapsody Titularkönigin war, hatte eine bescheidene Delegation geschickt, die vom Vizekönig Rial angeführt wurde, einem ruhigen Mann mit einem verständigen Kopf auf den Schultern. Er war zusammen mit dem lirinischen Botschafter und einer Hand voll Soldaten nach Sorbold gekommen, genau wie Ashe, angesichts dessen einsamer Gegenwart Achmed eine Augenbraue hochzog. Rhapsodys Abwesenheit war beunruhigend. Er wusste, dass sie nur sehr wenig davon abhalten konnte, eine solch wichtige Veranstaltung wie dieses Begräbnis in Terreanfor zu besuchen, denn dies war ein Ort, den sie noch nie hatte sehen dürfen, obwohl sie eine Erforscherin der alten Überlieferungen war.
Achmed sonderte sich so weit wie möglich von der Menge ab, obwohl die Tribüne so voll war, dass er kaum für sich stehen konnte. Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf Rhapsodys Herzschlag und fand ihn irgendwo in der Ferne, doch er war unregelmäßig. Achmed wusste nicht, ob dafür die einander widerstreitenden Rhythmen in seiner Nähe oder etwas anderes verantwortlich war. Er wollte Ashe fragen, sobald er die Gelegenheit dazu hatte.
Als er nach vorn trat, wurde um ihn herum ein wenig Platz gemacht. Die übrigen Adligen und Staatsoberhäupter hatten erwartungsgemäß begriffen, dass er allein sein wollte. Er benötigte keine Soldaten, Wachen oder ein Gefolge.