Выбрать главу

Er allein war schon tödlich genug.

Achmed beobachtete den zentralen Platz der Stadt, der von Zuschauern überquoll. Die Sorbolder waren ein ernstes Volk mit hartem und gelassenem Äußeren, so anders als die überschwänglichen Narren in Yarim, die noch vor wenigen Wochen den Arbeitsplatz der Bolg belagert und gebrüllt und gejohlt hatten, als feierten sie ein Volksfest. Er zweifelte nicht daran, dass ein solches Staatsereignis in Roland noch feierlicher gewesen wäre, wo die Gefühle umso höhere Wellen schlugen, je mehr Zuschauer anwesend waren.

Aber diese so schweigsame Menge war einschüchternder. Hier herrschte nicht die ausgelassene Stimmung einer orlandischen Versammlung, die ohne große Vorwarnung von erregter Freude zu wütender Zerstörung umschlagen konnte; weit unheimlicher waren die schweigenden Wüstenbewohner, die von den Wällen und Mauern, den Fenstern, Wehren und Felsen herabschauten und die Rituale beobachteten, welche den Übergang ihres Reiches von einer mit eiserner Hand geführten Diktatur in einen Zustand der Ungewissheit bedeuteten.

Achmed wusste genau, wie sie sich fühlten. Er bemerkte still, wie dankbar er war, dass er nicht mehr die Herzschläge aller Personen spürte, die das Land mit ihm teilten, wie es in Serendair gewesen war. Seine Blutgabe, dieses wahnsinnige Pulsieren von Millionen fremden Menschen in seinem Kopf und gegen seine Haut, war nur schwer zu ertragen gewesen, auch wenn sie ihm ein hübsches Einkommen als unfehlbarer Mörder verschafft hatte. Doch das war vorbei, unter den Meereswellen im nassen Grab der Insel zurückgelassen. Übrig geblieben waren nur einige ferne Pulse derjenigen, die ebenfalls einst dort gelebt hatten und nun in der neuen Welt unsterblich geworden waren. Wie Rhapsody. Und Grunthor.

Das Schlagen der Messingglocken in den Palasttürmen lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Treppe von Jierna Tal. Das scheußliche Scheppern legte sich harsch und unmelodisch über das Land und erstickte jeden Laut, der noch von den Truppen und Zuschauern ausgegangen war. Die Begräbnisriten hatten begonnen. Aus den Vordertüren des Palastes trat eine Prozession hervor, eine Doppelreihe von Priestern und Messdienern, deren Roben die Farben Sorbolds hatten – Zinnoberrot und Grün, Braun und Purpur. Es waren zuckende Farben, die wie Fäden in das allgemeine Bild gewoben waren. Achmed erkannte das Muster. Es waren dieselben Farben, die auch unter der steingrauen Haut des Schlafenden Kindes und in dem Altar aus Lebendigem Gestein zu sehen waren, auf dem es lag. Sie trugen große Stäbe vor sich her, die mit dem Symbol der Dynastie geschmückt waren: der goldenen Sonne, die von einem Schwert geteilt wurde. Nach der Geistlichkeit kam Nielash Mousa, der Seligpreiser der Region und Segner von Sorbold. Achmed erkannte ihn nur an der runden Mitra auf dem Kopf und dem Amulett der Erde um den Hals. In den letzten drei Jahren seit der Einsetzung des Patriarchen Constantin war Mousa um mindestens eine Dekade gealtert. Er hielt sich noch würdevoll aufrecht, obwohl seine Schultern unter einer unsichtbaren Last gebeugt waren.

Hinter Mousa folgten zwei Katafalke, getragen von je sechs Soldaten in der Livree des kaiserlichen Hauses. Die Leichname waren in einfaches weißes, goldbesticktes Leinen gewickelt. Nach der Größe zu urteilen, konnte es keinen Zweifel geben, dass die Kaiserin vorangetragen wurde und der Kronprinz der ewige Zweite war, im Tod wie im Leben. Eine einzelne Reihe von Trauernden und schwarz Gekleideten bildete schweigend und gefasst das Ende des Zuges.

Das Geläut verlangsamte sich zu einem lang gezogenen, wiederholten Schlagen der beiden tiefsten Glocken. Als die Klänge schließlich verstummten, kam eine letzte Gestalt aus dem Palast hervor. Es war ein großer Mann in goldener Kleidung, auf die an Brust und Rücken ein reich verzierter silberner Stern genäht war. Seine Blicke suchten die Menge um ihn herum und über ihm ab. Achmed bemerkte an seinem ruhigen Gesichtsausdruck, dass er solche gewaltigen Versammlungen inzwischen gewöhnt war.

Es war der Patriarch Constantin.

Als Einziger der gesamten Geistlichkeit trug der Patriarch keine Kopfbedeckung. Wie alle von cymrischem Geblüt, die außerordentlich lange gelebt hatten, war er sehr stämmig. Sein weißblondes Haar und der gewellte Bart waren von grauen Strähnen durchzogen und das Gesicht zerfurcht, doch die Schultern waren noch breit und ungebeugt. Er hob die Hand zu den Leuten und bewegte sie langsam von rechts nach links. Dabei verneigte sich jedermann respektvoll. Mehr noch als die beiden Leichen verursachte die Anwesenheit des Patriarchen eine Aura der Ehrfurcht auf dem Platz. Üblicherweise blieben die Patriarchen für die Bevölkerung und selbst für die Gläubigen unsichtbar, die in ihren Kathedralen den Gottesdienst versahen. Die Prozession bewegte sich über den Marktplatz, und die unmelodischen Glocken schlugen wieder. Achmed verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere. Die Schwingungen aus dem Glockenturm verursachten ihm Zahnschmerzen und Krämpfe im Rücken.

Er spürte eine Hand an seinem Ellbogen. Ashe hatte sich einen Weg durch die Ansammlung von Adligen und Staatsoberhäuptern gebahnt und stand nun neben ihm auf der Tribüne.

»Sei gegrüßt, Achmed.«

Der Bolg-König nickte knapp. »Wo ist Rhapsody?«

»In Navarne«, erwiderte der Herrscher der Cymrer und lehnte sich vor, um einen besseren Blick auf die Prozession zu bekommen, die nun die Stufen zur Plattform auf dem Platz der Waage hochschritt.

»Aber inzwischen könnte sie bereits zu Elynsynos unterwegs sein.«

Der letzte Schlag der Messingglocken ertönte, erstarb langsam und nahm den Lärm der Menge mit. Mit großer, ernster Vorsicht stiegen die Träger der Katafalke die Stufen hinauf, gefolgt von dem Seligpreiser. Der Rest der Geistlichkeit blieb zurück und umringte den Ständer, auf dem sich die heilige Reliquie befand. Einer der Priester, die die Prozession angeführt hatten, erhielt zwei Pergamentrollen und eine Feder. Er entrollte die erste Rolle, die ältere der beiden. Oben auf der Treppe traten dem Seligpreiser vier stämmige Soldaten entgegen, die eine reich beschnitzte, an zwei Stangen hängende Truhe in der Größe eines Sarges trugen. Sie folgten ihm zur Seite der Waage und standen dann reglos da, den Blick auf die Sonne gerichtet.

Achmed kniff die Augen zusammen, als der erste in Leinen gewickelte Leichnam unter Nielash Mousas Anweisung hochgehoben und vorsichtig auf eine der goldenen Schalen gelegt wurde. Er und Ashe schauten aufmerksam zu, wie der Seligpreiser persönlich in die große, verzierte Truhe griff und viele kleine Sandsäcke herausholte, die als Fäuste bekannt waren, ein Gewicht, das in Sorbold und bei den Kaufleuten, die hier Handel trieben, weit verbreitet war. Er legte sorgfältig eine Faust nach der anderen auf die Schale gegenüber dem Leichnam der Kaiserin und beobachtete eingehend das Gleichgewicht.

Schließlich gab der Segner von Sorbold nach quälend langer Zeit dem Priester, der die Pergamentrolle hielt, ein Zeichen. Der Geistliche eilte nach vorn, um zu vernehmen, was der Seligpreiser ihm mitzuteilen hatte. Er schrieb es mit der Feder auf das Pergament, richtete sich dann auf und wandte sich an den Patriarchen.

»Ihre Durchlaucht, die Kaiserinwitwe, wog bei ihrer Geburt dreiundzwanzig Fäuste und ein Fingergewicht. Bei ihrer Krönung fünfhunderteinundfünfzig Fäuste und ein Fingergewicht. Bei ihrer Hochzeit sechshundertsechsundsechzig Fäuste und sechs Fingergewichte. Bei der Geburt ihres Sohnes siebenhundertfünfundsiebzig Fäuste und zwei Fingergewichte. Bei ihrem fünfzigjährigen Thronjubiläum fünfhundertvierzehn Fäuste und acht Fingergewichte. Bei ihrem fünfundsiebzigsten Thronjubiläum dreihundertsechsundsechzig Fäuste und drei Fingergewichte.«

Der Priester sah die Rolle eine Zeit lang an. Er wirkte verwirrt. Dann verkündete er mit leicht schwankender Stimme: »Beim Wiegen nach dem Tod einhundertzwei Fäuste und drei Fingergewichte.«

Ein Raunen durchlief die Menge bei dieser Zahl. Ashe und Achmed sahen sich an.

»Das kann unmöglich richtig sein«, murmelte der Herr der Cymrer. »Wenn es stimmt, wiegt sie nicht mehr als bei ihrer Geburt und hätte höchstens die Körpermasse einer Dreijährigen.«