»Offenbar ist die Waage falsch eingestellt«, meinte Achmed. Ein unterdrücktes Keuchen stieg vom Boden unter der Tribüne auf. Der Bolg-König schaute hinunter und sah, wie ihn die erste Reihe der Sorbolder mit einer Mischung aus Entsetzen und Abscheu anstarrte. Ashe beugte sich leicht vor und flüsterte ihm ins Ohr: »Du solltest jetzt keine politischen Aussagen treffen«, sagte er leise. »Die Waage wird seit langem als unfehlbar in allen wichtigen Angelegenheiten angesehen. Wie du an der Litanei des kaiserlichen Lebens ablesen kannst, wird jeder Einwohner von Sorbold bei wichtigen Abschnitten seines Lebens gewogen – auch wenn nur die kaiserliche Familie das Recht hat, sich dieser besonderen Waage zu bedienen.«
Achmed schluckte eine wütende Bemerkung herunter und blieb stumm. Er hatte die Schalen vor langer Zeit in Serendair an einer anderen Waage gesehen und kannte ihre Geschichte besser als Ashe.
»Teile das Todesgewicht noch einmal mit«, befahl der Seligpreiser.
»Einhundertzwei Fäuste, drei Fingergewichte.« Der Seligpreiser und der Patriarch tauschten einen raschen Blick. Dann drehte sich Nielash Mousa um und wandte sich an die Menge.
»Während ihres ganzen Lebens hat Ihre Durchlaucht für Sorbold gelebt und geatmet. Es kommt nicht unerwartet, dass sie den Rest ihrer Lebensessenz in die Luft ausgeatmet hat«, sagte er mit seiner heiseren Stimme. »Sie hat alles, was sie besaß, ihrem Volk und ihrer Nation gegeben, sodass von ihrem irdischen Körper kaum etwas übrig geblieben ist, doch dessen Leichtigkeit zeigt deutlich, dass ihr Geist nun frei ist und sich in der Wärme des Nachlebens befindet.«
Die Menge verfiel in skeptisches Schweigen.
Der Seligpreiser gab den Soldaten ein Zeichen. Sie nahmen den kleinen, in Leinen gewickelten Leichnam von der Waagschale, legten ihn wieder auf den Katafalk, auf dem er geruht hatte, und verstauten die Fäuste in der Truhe. Die Soldaten, die den Kronprinzen getragen hatten, traten vor und hoben dessen Körper offenbar unter größeren Mühen als bei der Kaiserin auf die Waagschale. Wieder begann der Segner von Sorbold mit der Zeremonie und balancierte die Schalen mit den Sandsäcken langsam gegeneinander aus. Die Menge murmelte allmählich, als die Minuten verstrichen, doch der Seligpreiser fuhr peinlich genau mit seiner Arbeit fort und legte mit großer Genauigkeit jeden kleinen Sack auf den anwachsenden Haufen, wobei er immer wieder das Gleichgewicht untersuchte. Schließlich teilte er das Ergebnis dem Hauptpriester mit, der sich an den Patriarchen und an die Menge wandte.
»Seine Hoheit, der Kronprinz Vyshla, wog bei seiner Geburt achtundzwanzig Fäuste und acht Fingergewichte«, verkündete er. »Mit Erreichen der Reife im Alter von elf Sommern sechshundertdreiundneunzig Fäuste.« Er hustete. Da es keine weiteren bedeutenden Ereignisse im Leben des Prinzen gegeben hatte, verlas er das Totengewicht.
»Beim Wiegen nach dem Tod tausenddreihundertsechsundfünfzig Fäuste und drei Fingergewichte.«
Ein seltsames Lautgemisch sprach sowohl von Erstaunen als auch von Belustigung, bevor die Menge wieder still wurde.
Nielash Mousa räusperte sich. »Im Gegensatz zu Ihrer Durchlaucht, welche ihre gesamte irdische Essenz dem Dienst an ihrem Volk aufopferte, ist der Kronprinz Vyshla aus dem Leben geschieden, bevor er die Gelegenheit dazu hatte, obwohl er bestens darauf vorbereitet war, seinem Volk zu dienen. Sein Beitrag für Sorbold wäre zweifellos ein gewichtiger gewesen.«
Der Segner von Sorbold stand eine Zeit lang da, weil er keine anderen freundlichen Worte fand, und bedeutete dann den Soldaten, den Leichnam von der Schale zu nehmen und ihn auf den Katafalk zurückzulegen.
Schließlich gab der Segner den Priestern, die bereits eine Doppelreihe gebildet hatten, ein Zeichen, und gemeinsam mit ihnen und den Katafalken machten sie sich auf den langen Marsch nach Terreanfor.
Sie schritten durch die Menge, ohne den Blick von dem Weg vor ihnen abzuwenden. Selbst wenn sie es getan hätten, wäre ihnen wahrscheinlich der Mann am Rande der Zuschauermenge nicht aufgefallen, der die Prozession mit ungewöhnlich freudigem Gesichtsausdruck beobachtete. Dieses Gesicht war viel fester und greifbarer geworden als beim letzten Mal, da er im Licht des Vollmondes am Fuß der Waage gestanden hatte.
21
Der Lärm der Menge war längst erstorben, als die Begräbnisprozession und die eingeladenen Würdenträger bei der Basilika im Nachtberg ankamen.
Jeder der Gäste war gebeten worden, sein Gefolge am Bergpass zurückzulassen, der den Eingang zur Erd-Basilika bewachte. Zwanzig Regimenter mit sorboldischen Soldaten standen bereit, um diese Bitte freundlich durchzusetzen.
Der Bolg-König und der Herr der Cymrer waren, weil sie nebeneinander gestanden hatten, in der Prozession ebenfalls zusammengeführt worden und folgten nun mit einem Gefühl des Unbehagens den Priestern in ihren vielfarbigen Gewändern.
»Warum ist sie nicht hergekommen?«, fragte Achmed, während sie in eine Felsenschlucht hinabstiegen. Es war kaum mehr als ein oben offener Tunnel, dessen Wände sich hoch über die Prozession erhoben.
Ashe lächelte in sich hinein und richtete den Blick auf den Kiesboden.
»Sie hatte Wichtigeres zu tun.«
Der Priester vor ihnen drehte sich um und starrte sie beide böse an, sagte aber nichts. Die beiden Herrscher verstummten.
Bei dem Mund der Höhle, welche zu der Basilika führte, hielt die Prozession an. Die beiden goldenen Symbole, die vor ihr hergetragen worden waren, wurden zu einer Stelle in der Schlucht gebracht, von wo aus man den Himmel deutlich sehen konnte, und der Länge nach auf einen gewaltigen Zeremonienstein gelegt, über den Öl gegossen wurde. Die Gäste warteten, bis die Sonne das Feuer entzündet hatte, und verließen sich dann auf vier kleine Laternen, die ihnen den Weg in die Dunkelheit der Erdkathedrale erhellen sollten. Achmed betrachtete die dunklen Wände, während die Prozession den finsteren Tunnel hinabschritt, der zur eigentlichen Kathedrale führte. Die Erde, die am Eingang wegen des Kontaktes mit der Hitze der Oberwelt trocken und steinig gewesen war, wurde mit jedem Schritt kälter und feuchter. Das ferne, schwache Licht am Kopf der Prozession warf zitternde Schatten, zwischen denen man die Wände des Ganges erkennen konnte, die im Gegensatz zu normalen Höhlenwänden glatt und sauber und von der Natur wunderbar gefärbt waren, was leider in der Dunkelheit beinahe vollständig unterging. Als sich der Beerdigungszug tiefer in den Nachtberg hineinbewegte, verschwanden alle Geräusche der Oberwelt und wurden von dem langsamen, melodischen Gesang der Erde ersetzt. Das tiefe Timbre war so leise und ungewöhnlich, dass die meisten Würdenträger es gar nicht hörten. Im Gegensatz zu ihnen schwangen Achmeds Atmung und Herzschlag sich in diesen Rhythmus ein, und seine Schritte hallten in mühelosem Gleichklang. Von allen anderen schien nur Ashe dieses Pulsieren aufgenommen zu haben.
Weit vorn flackerte Licht an den Wänden des Ganges. Der Zug der Geistlichen, Leichenträger und Trauernden verlangsamte sich, als er sich den tanzenden Schatten näherte. Die Würdenträger, die an das Ende des Zuges verbannt worden waren, mussten stehen bleiben und darauf warten, in die eigentliche Basilika eingelassen zu werden.
Schließlich bewegte sich die Beerdigungsprozession durch einen hohen Torbogen in ein großes, kreisrundes Vorzimmer.
Die Abmessungen des Raumes waren nur zum Teil in dem widerspiegelnden Licht sichtbar, das aus einem der drei halbkreisförmigen Alkoven in den Wänden drang. Jener Alkoven rechts von dem Trauerzug, der zunächst wie ein weiterer Torbogen ausgesehen hatte und doppelt so groß wie die anderen beiden war, strahlte Hitze und Licht von einer zuckenden Flamme aus, die mit einer Intensität brannte, welche man nur in dem reinen Feuer aus dem Herzen der Erde fand. Der kleine Flammenquell aus treibendem Licht warf helle Flecken in das Vorzimmer und bis kurz hinter den Torbogen, der in die Basilika führte.
Aus dem Alkoven, der dem Zug unmittelbar gegenüberlag, hörte man ein tiefes Gurgeln und Plätschern. Das schwache Licht beleuchtete kurz den blubbernden unterirdischen Strom, der eine kleine, in sich selbst niederfallende und gleich wieder aufsteigende Fontäne bildete. Als die Prozession das Vorzimmer betrat, drang ein plötzlicher Wind mit dem schweren Geruch von Erde aus dem letzten Alkoven und fuhr über die Leute hinweg. Er war zwischen den Wänden gefangen.