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Schon gab es Aufruhr im Heer.

Die Macht der Kaiserin über das Heer war legendär gewesen. In einem rauen Land, das hauptsächlich aus treibendem Wüstensand und undurchdringlichen Bergen bestand, war die Frage des Grundeigentums weniger wichtig als in anderen Teilen der Welt, wo das Land ergiebiger war. In Roland konnte man sich ein Stück der Krevensfelder oder eines Flusstales abstecken, darauf bauen und Landwirtschaft treiben, es seinen Kindern vererben, also seine Seele und die seiner Abkömmlinge im Boden verankern. Herrscher kamen und gingen, Steuern wurden widerstrebend an die Krone gezahlt, aber das Land gehörte denjenigen, deren Blut es geformt hatte und die es weiterhin bestellten. Genauso war es in den großen orlandischen Städten. Jeder Palast, jede Basilika stellte die Träume, Sehnsüchte und Anstrengungen von weitaus mehr Leuten als dem Herzog dar, der darin wohnte, oder dem Seligpreiser, der darin seine Riten vollführte. Es war die tausendfach vergrößerte Vision des Architekten, die Mühe des Tischlers, die Arbeit des Steinmetzen, und jedes Geschäft, jede Gilde spiegelte das Konzept des Besitztums wider, einer persönlichen Macht im Schatten eines schwachen Führers. Die Unbeständigkeit des sorboldischen Bodens, auf dem man nur wenige und weit voneinander entfernte Städte errichten konnte, führte zum Gegenteil. Die Wüste vereitelte die kümmerlichen Versuche, sie zu erobern und zu gestalten. In dieser Hinsicht hatte sie vieles mit dem Meer gemeinsam. Bei den Bergen war es ähnlich. Daher bestand die einzige wirkliche Macht, die das Land bereitstellte, im reinen Element des Lebendigen Gesteines, das jeder Herrscher der Dunklen Erde hoch achtete und schätzte.

Seit fünf Generationen hatte sich diese Macht unangefochten im eisernen Griff der sorboldischen kaiserlichen Familie befunden. Jede Generation hatte nur einen einzigen Erben hervorgebracht. Leitha war als einziges Kind den Lenden ihres Vaters entsprossen, so wie er das einzige Kind seines Vaters und Vyshla ihr einziger Nachkomme gewesen war. Diese Zusammenballung hatte ihre Familie noch mächtiger gemacht.

Und das Heer respektierte offenkundige Macht.

Doch nun war aufgrund eines grausamen Schicksals der Thronerbe der Herrscherin vorangegangen, ohne einen unmittelbaren Nachfahren zu hinterlassen. Daher gab es niemanden, der einen eindeutigen Anspruch auf den Thron hatte. Die Riege der Kandidaten mit entfernten verwandtschaftlichen Beziehungen zur kaiserlichen Familie war groß und zweifelhaft. Es gab schon Aufregung um das Gerücht, dass sich der Kommandant der westlichen Streitkräfte niemandem unterwerfen wollte, dessen Anspruch auf Leithas Thron kaum berechtigter war als sein eigener.

Trotz dieser Spannungen waren alle gekommen: jeder Anwärter auf den Sonnenthron, der auch nur einen Tropfen kaiserliches Blut in den Adern hatte. Es war nicht das Verlangen nach dem Mantel des Kaisers, das sie auf die Jagd nach dem Thron schickte – die mit der Krone verbundene Verantwortung war größer und drückender als die Freuden der Macht -, sondern das Bestreben, ihre eigenen Vorrechte und Besitztümer zu wahren. Ohne irgendeinen Familienangehörigen auf dem Thron gerieten all jene, die aufgrund ihrer Geburt an die reichen Geschenke und das angenehme Leben eines Mitgliedes der kaiserlichen Familie gewöhnt waren, in Gefahr, ihre Vorrechte zu verlieren. Mousa hatte den größten Teil des Nachmittags in der Hitze neben der Waage gestanden, während Kandidat nach Kandidat die Stufen zu den Waagschalen hochstieg, um sich und sein angebliches Recht auf die Herrschaft wiegen zu lassen, während auf der anderen Schale der Staatsring lag. Einer nach dem anderen trat nervös auf die leere goldene Schale und beäugte den kleinen Ring aus Hämatit und Rubinen auf der anderen.

Einen nach dem anderen wogen die Schalen und warfen ihn ab, manche heftiger als andere, als ob das große Instrument nicht nur ihren Anspruch verneinte, sondern sie absichtlich mehr oder weniger stark aus dem Gleichgewicht brachte.

Diejenigen, die von der Begräbniszeremonie am Morgen übrig geblieben waren, hatten grobe Laken und Proviant mitgebracht und lagerten auf dem Platz, um das Schauspiel zu beobachten. Ihre Ausdauer wurde belohnt; einige der Kandidaten waren auf so lächerliche Weise auf den Kopf oder das Gesäß gefallen, dass die Zuschauer den Eindruck hatten, sie befänden sich in einem Zirkus. Nun war nur noch ein Mann übrig, ein entfernter Vetter. Zögernd trat er auf die oberste Stufe; sein langes, lockeres Hemd war am Rücken und unter den Achseln schweißfleckig. Nielash Mousa zwang sich zu einem wohlwollenden Lächeln.

»Sag deinen Namen.«

»Karis von Ylwendar.«

Der Segner nickte, wandte sich an die Versammelten und wiederholte den Namen.

»Ist es dein Wunsch, die Waage zu befragen, um deinen Anspruch auf den Sonnenthron der Dunklen Erde sowie auf die Herrschaft Terreanfors und des ganzen Reiches von Sorbold zu klären, von den dunklen Tiefen bis zur endlosen Sonne darüber?«

»Ja«, bekräftigte der Mann ängstlich und ließ die Blicke über den Platz schweifen.

»Nun gut, Karis von Ylwendar. Tritt auf die östliche Waagschale und unterwirf dich Leuk, dem Wind der Gerechtigkeit.«

Der Mann stand wie angewurzelt da.

Der Seligpreiser seufzte schwer. »Möchtest du dich um den Thron bewerben oder nicht?«

Karis schaute über die Schulter und dann zurück zu Mousa und zitterte wie ein Blatt im Wüstenwind.

»Ja, das will ich.«

»Dann tritt auf die Waagschale«, sagte der Seligpreiser so freundlich wie möglich und strengte sich an, das Protokoll zu wahren. Er wollte nicht als der Geistliche in Erinnerung bleiben, der den nächsten Kaiser beleidigt hatte, kurz bevor ihn die Waage bestätigte, auch wenn das nur wenig wahrscheinlich war.

Nervös trat Karis auf die Schale.

Als er mit dem zweiten Fuß Halt gefunden hatte, blies der Wind in einer steifen, heißen Brise aus West. Er wirbelte die Schale umher, stellte sie schräg und schwang sie wie eine gewaltige Schleuder. Karis von Ylwendar segelte über die Köpfe der erfreuten Menge und schlug in einem Fischerkarren ein. Getrocknete Heringe und gesalzene Makrelen flogen in alle Richtungen. Ein Chor aus Gejohle und Freudengeheul begleitete seine Landung.

Mousa kämpfte darum, die feierliche Miene nicht zu verlieren. »Gibt es noch jemanden, der behauptet, er sei von kaiserlichem Geblüt, und der gewogen zu werden verlangt?«

Schweigen antwortete ihm.

Der Segner von Sorbold räusperte sich und sprach; sein Herz war schwer, obwohl er um den Ausgang gewusst hatte.

»Nun gut. Nachdem das rituelle Wiegen bei jeder Person von kaiserlichem Geblüt durchgeführt wurde und die Waage niemanden für geeignet befand, den Sonnenthron einzunehmen, erkläre ich die Dynastie der Dunklen Erde für erloschen. Ein Kolloquium wird unverzüglich eingesetzt, um über die zwischenzeitliche Herrschaft zu entscheiden. Alle Kandidaten, die sich daraus oder aus anderen Übereinkünften ergeben, werden durch die Glocken von Jierna Tal zur Waage gerufen werden. Bis dahin befehle ich, dass die Glocken schweigen.«

Er gab seinem Gefolge ein Zeichen und stieg die Stufen hinab. Das Gewicht auf seinen Schultern war plötzlich noch viel schwerer geworden.

Stille herrschte in Jierna’sid.

Sie lag über dem Platz der Waage, wo die Schalen reglos warteten und aufleuchteten, als die Schatten des Abends länger wurden. Die Bewohner waren von dem Platz vertrieben und durch eine ausdruckslose Mauer aus dunkelhäutigen, stumpfgesichtigen Soldaten ersetzt worden, die die Uniformen der inzwischen erloschenen Dynastie der Dunklen Erde trugen. Über ihnen brütete eine alles beherrschende Nervosität, die der Menge unheimlich gewesen war. Die Einwohner hatten rasch ihre Decken und die Überreste ihres Picknicks zusammengerafft und den Platz fluchtartig verlassen. Die Volksfestatmosphäre war durch eine Unheil verkündende Stille ersetzt worden.