Die Nacht brach rasch herein, als die Vorbereitungen des Kolloquiums abgeschlossen waren. Der Platz vor Jierna Tal war vom Schlosseingang bis zum äußeren Rand des Platzes der Waage von gleißenden Lampen erhellt. Mächtige Fackelständer trugen große Zylinder mit brennendem Öl, welche der Versammlung Licht spenden und sie möglicherweise auch erleuchten sollten.
Zwei ausgedehnte Kreise aus Tischen, ein kleinerer in einem größeren, waren zusammen mit Stühlen für die versammelten Gäste am Fuß der Waage aufgestellt worden. Der Abend war warm und befand sich noch im Griff der Sommerhitze, doch die heiße Brise war erfrischender als die feuchte, abgestandene Luft im Palast, der wegen der Begräbnisvorbereitungen noch immer nach Tod und Weihrauch roch.
Im inneren Kreis saßen sich besorgt die Abgesandten aller großen Gruppen Sorbolds gegenüber:
Fhremus, der Oberkommandierende und Vertraute der Kaiserin, ferner Ihvarr und Talquist, die Herrscher der westlichen und östlichen Merkantile, der Gilde der Kaufleute und Schifffahrtsvereinigungen, die beinahe den gesamten Handel und die Industrie Sorbolds beherrschte, und die siebenundzwanzig Grafen als Oberhäupter der siebenundzwanzig Stadtstaaten. Diese Mischung aus Militär, Handel und Adel war leicht entzündlich, weswegen sie der Segner wohl in die Mitte gesetzt hatte. Falls es hoch hergehen sollte, würde der zweite Ring als Puffer dienen oder wenigstens einen Mantel über den Brandstifter werfen und ihn in den Sand rollen. Die geladenen Gäste von außerhalb Sorbolds waren nicht so zahlreich, und es befand sich mehr Platz zwischen ihnen. Sie saßen zusammen mit der Geistlichkeit im äußeren Ring. Ashe war als Haupt des cymrischen Bündnisses anwesend, mit dem Sorbold Friedensverträge und Handelsabkommen eingegangen war, und die anderen waren die Herrscher oder ihre Vertreter aus den verschiedenen Reichen innerhalb dieses Bündnisses. Achmed war für die Bolglande gekommen, Tristan Steward für Roland und Rial für Tyrian. Außerdem beobachteten die Herrscher der Länder jenseits des Inneren Kontinents – der Wahrsager des Hintervold namens Miraz von Winter, Beliac, der König des östlichen Reiches Golgarn, und Viedekam, Häuptling von Penzus, des größten Reiches in der südlichen neutralen Zone, sowie die Anführer der angrenzenden Länder – einander mit einer Mischung aus Gleichmut und Misstrauen.
Ashe bemühte sich, eine ruhige, freundliche Miene aufzusetzen, auch wenn es in ihm brodelte. Die Luft auf dem Platz der Waage war mit unausgesprochenen Worten aufgeladen und von versteckten Zwistigkeiten erfüllt. Er spürte es am Rande seines Drachenbewusstseins, bezweifelte aber nicht, dass er es auch ohne sein Drachenblut bemerkt hätte.
Neben dem Eingang zum Palast stand Nielash Mousa mit Lasarys, dem Hauptpriester, der das Totengewicht der Kaiserin und des Kronprinzen in die Pergamentrollen eingetragen hatte. Lasarys war der Totengräber von Terreanfor und für die Erhaltung und den Schutz der Erd-Basilika zuständig. Diese Stellung war in der patrizianischen Religion von Sepulvarta genauso wichtig wie die des Tanisten für den Fürbitter von Gwynwald in der Religion der Filiden; dieses Amt hatte einst Ashes Vater innegehabt. Lasarys, ein stiller, gelehrter Mann, der seine Tage in den dunklen Tiefen der Erde verbrachte und sich liebevoll um die geheime Kathedrale kümmerte, schien sich unter dem offenen Himmel auf dem Platz der Waage und inmitten so vieler unausgesprochener Zwistigkeiten unwohl zu fühlen. Er tat Ashe Leid, denn auch er wünschte sich, er könnte die Erde in ihrem Lauf anhalten und die Zeit zurückdrehen, damit das, was nun bevorstand, nicht geschehen musste. Er überquerte den dunklen Platz und ging unter den Bögen aus flackerndem Licht hindurch, bis er vor dem Seligpreiser stand. Dort verneigte er sich höflich.
»Wie geht es Euch, Euer Gnaden?«
Der Seligpreiser von Sorbold lächelte. »Ich bin froh, wenn die Nacht vorüber ist.«
Ashe nickte. »Wird der Patriarch anwesend sein? Ich sehe keinen Platz für ihn.«
Mousa schüttelte den Kopf. »Er will das Verfahren segnen, aber danach sofort abreisen. Er muss nach Sepulvarta zurückkehren, damit er rechtzeitig zu den mittsommerlichen Einsegnungsfeierlichkeiten dort ist.«
»Allerdings.«
Die tiefe Stimme des Patriarchen erschallte hinter ihnen. Lasarys fuhr zusammen, verneigte sich ehrerbietig und zog sich rasch zum Kreis der Stühle zurück. Die Stille auf dem Platz wurde plötzlich noch tiefer, als einige der Teilnehmer des Kolloquiums die Gegenwart des heiligen Mannes bemerkten.
»Ich hatte auf die Gelegenheit gehofft, Euch vor dem Beginn des Kolloquiums nach Eurem Befinden zu fragen«, sagte Ashe zu Constantin und erwiderte das Zeichen der Segnung, mit dem der Patriarch ihn bedachte. »Wie geht es Euch, Euer Gnaden? Meine Frau wird es wissen wollen.«
Der große Mann lächelte, seine blauen Augen glänzten. »Bitte bestellt Rhapsody, dass ich wohlauf bin und sie sich schon seit langer Zeit keine Sorgen mehr um mich machen muss.«
»Könnt Ihr Eure Abreise nicht um einen Tag verschieben?«, fragte der cymrische Herrscher und beobachtete das Stühlerücken und die Blicke in der Mitte des Platzes. »Hier wird jede Art von Weisheit dringend benötigt, komme sie aus dem Ring oder von Eurer Erfahrung. Ihr wäret eine willkommene Ergänzung bei den Gesprächen. Ich bin sicher, Ihr habt Eure eigene Meinung darüber, was als Nächstes geschehen sollte.« Er lächelte, denn er wusste, woher der Patriarch stammte, auch wenn das außer Rhapsody und ihm niemandem bekannt war.
Der Patriarch kicherte und schüttelte den Kopf. »Ich habe über alles eine eigene Meinung, mein Sohn, aber ein Teil der Bürde, die sich aus dem Ring der Weisheit ergibt, besteht darin zu wissen, wann man seine Meinung für sich behalten muss. Die Kirche sollte keinen Anteil an der Entscheidung über die Zukunft Sorbolds haben, sondern diese Entscheidung respektvoll und im Gebet unterstützen.« Er sah die Versammelten im inneren Ring scharf an und beugte sich dann leicht vor, sodass außer Ashe niemand seine Worte verstand.
»Wie schwierig das am Ende auch sein mag.« Er hob vor der Versammlung die Hand. Alle Anhänger der patrizianischen Religion verneigten sich ehrfurchtsvoll. Nur der Wahrsager, Achmed, Rial und der König von Golgarn standen weiterhin aufrecht, wenn auch in höflichem Schweigen. Dann verneigte sich der Patriarch leicht vor Ashe, der als Herrscher der Cymrer sowohl das Haupt der Kirche von Sepulvarta als auch des filidischen Glaubens und der Naturpriester von Gwynwald war.
»Nielash Mousa wird seiner Nation als Abgesandter der Kirche gut dienen«, sagte er sanft. »Und ich will auf keinen Fall seine Autorität überschatten.« »Verstanden.«
»Gut. Nun, Gwydion, bitte empfehlt mich Eurer Gemahlin. Ich muss mich auf den Weg machen.«
Ashe räusperte sich nervös. »Wenn Ihr bei dem Sommer-Ritual für sie zum All-Gott beten würdet, wäre ich Euch sehr dankbar«, sagte er ruhig.
Die stechenden blauen Augen des Patriarchen verengten sich. »Ist sie krank?«
Der Herr der Cymrer schüttelte den Kopf. »Schwanger.« Constantin dachte einen Moment lang nach und klopfte dann Ashe auf die Schulter.
»Ich werde jeden Tag ihrer Schwangerschaft Gebete für sie darbringen, bis Euer Kind geboren ist«, sagte er ernsthaft.
»Schickt nach mir, falls sie krank wird. Ich habe vor langer Zeit einige Dinge gelernt, die ihr helfen könnten.«
Ashe verneigte sich tief. »Vielen Dank.«
Der Patriarch gab mit feierlichem Gesichtsausdruck seinem Gefolge ein Zeichen und verließ Jierna’sid. Nach der Abreise des Patriarchen dauerte es nur wenige Minuten, bis die ganze Hässlichkeit des Bevorstehenden offenbar wurde.
Nach einigen Stunden hatte diese Hässlichkeit Wurzeln ausgebildet und wuchs allmählich heran. Es begann mit einem Streit, den die Adligen auslösten, die Grafen, denen – oder deren Vorfahren – die Kaiserin das Recht der Herrschaft über die Stadtstaaten verliehen hatte. Obwohl sie mit der kaiserlichen Familie nicht verwandt waren, hatten sie ihr als formelle Oberhäupter jener Staaten seit Generationen treu gedient.