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Die Tür schloss sich hinter ihr. Rhapsody blieb glückselig wie auch verwirrt zurück. Auch in den nächsten Nächten besuchte ihre Schwester sie. Der Traum dauerte jeweils nur wenige Augenblicke; daher gewöhnte sich Rhapsody daran, sofort das zu sagen, was ihr am meisten auf dem Herzen lag, sobald ihre Schwester durch die Tür kam. Sie versuchte immer noch, leichthin ›Auf Wiedersehen zu sagen, als Jo ihr eines Nachts eröffnete, sie könne nun nicht mehr kommen.

»Du hast die Antworten erhalten, die du am dringendsten gebraucht hast«, sagte sie, als Rhapsody gegen die Tränen ankämpfte. »Ich liebe dich; da ist nichts, was dir vergeben werden müsste. Und deiner Definition nach bin ich glücklich. Du solltest es auch sein, Rhaps.« Sie stand auf, beachtete die Bitten der Sängerin, sie solle doch bleiben, nicht weiter und schritt durch die Tür.

Trotz der beruhigenden Gerüche der Kerzen senkte Rhapsody den Kopf und überließ sich ihrem Kummer. Nun spürte sie eine sanfte Hand auf ihrer Stirn. Rhapsody sah im Schlaf auf und bemerkte, wie das Gesicht, das ihrem eigenen so ähnlich sah, sie anlächelte.

»Weine nicht, Emmy.« Die Hände ihrer Mutter waren sanft und schmeichelten ihr die Tränen aus dem Gesicht.

Schließlich war es überstanden. Eines klaren Tages, der sich nicht von den anderen unterschied, traf die Fürstin Rhapsody im Wald und streckte ihr die Hand entgegen. In ihr befand sich eine pfeildünne, kleine Phiole mit einer Flüssigkeit, die schwarz wie Pech war. Als Rhapsody sie verwirrt anschaute, lächelte die Fürstin.

»Nach all deinem Leiden hatte ich geglaubt, du würdest es sofort erkennen.«

Rhapsody riss die Augen weit auf. »Das ist es? Das ist das Ergebnis von sieben Jahren und von allen zehn Kindern?«

»Das ist alles, was übrig bleibt. Es ist bis zur Essenz seiner dämonischen Natur destilliert worden das Böse in seiner reinsten Form.«

Ein Schaudern durchlief die Sängerin. »Ist es in dieser Flasche sicher verwahrt?«

»Für eine Weile. Nicht für lange. Ich schlage vor, du legst es so schnell wie möglich in die Hände des Dhrakiers.« Sie öffnete die Handfläche; in ihr lag ein weiterer Behälter aus silbernem Hämatit, einem Mineral, den die Lirin Blutstein nannten. Er war wie ein Dachsparren geformt, und der Boden war mit Kork überzogen. Die Fürstin öffnete das steinerne Gefäß und steckte das gläserne hinein, dann verschloss sie es. Sie streckte Rhapsody die Hand entgegen.

»Das sollte in die Spitze der Scheide deines Schwertes passen, wohin die Klinge nicht reicht. Die Elementarkraft des Feuers und der Sterne wird es beschützen, bis du es demjenigen gibst, der damit nach dem F’dor suchen wird.«

Rhapsody nickte; sie hatte immer noch Angst davor, den Behälter zu berühren. »Soll ich jetzt gehen?«

»Ja.«

»Und was wird aus den Kindern?«

»Alle, die mit dir gehen wollen, dürfen das. Alle anderen können hier bleiben, wenn es ihr Wunsch ist. Sie haben sich das Recht des ewigen Friedens erkämpft.«

Rhapsody nickte und brachte ein Lächeln zustande. »Ich bin Euch für Eure Freundlichkeit und die des Fürsten ewig dankbar.« Widerstrebend nahm sie den Behälter entgegen. Die Fürstin sah sie ernst an. »Das musst du nicht sein, Rhapsody. Gefälligkeiten gehen für gewöhnlich mit Opfern einher. Daran brauche ich dich wohl nicht zu erinnern.«

Sie wollte gerade fragen, ob sie noch etwas schuldig sei, als die Kinder aus einer der Hütten strömten und lachend und rufend auf sie zuliefen. Die Fürstin lächelte sie noch einmal an und wurde dann undeutlicher, als die Luft um sie herum sich bewölkte. Rhapsody sah sich ängstlich um und bemerkte, dass Constantin in einiger Entfernung zu ihr stand. Sie streckte die Hand nach ihm aus, und er kam herbei.

»Komm mit uns«, sagte sie und ergriff seine Hand.

Der Gladiator schüttelte den Kopf. »Nein, ich will hier bleiben.«

Tränen traten ihr in die Augen. »Warum?«

»Die Zeit ist noch nicht gekommen.« Seine Stimme war sanft und tief wie das Meer. Verzweiflung kroch in ihre Worte; der Schleier des Nebels wurde dichter. »Bitte komm mit, Constantin. Ich werde dich sonst nie wieder sehen.«

Alles, was von ihm sichtbar blieb, waren die klaren blauen Augen, die den Dunst wie Saphirstrahlen durchdrangen.

»Du wirst mich wieder sehen, eines Tages.« Er schloss die Augen und verschwand im Nebel. Sie rief seinen Namen, doch es antwortete nur der Wind in den Bäumen des Waldes. Rhapsody vergrub das Gesicht in den Händen und spürte das eisige Stechen ihrer Tränen.

»Rhapsody, sieh nur! Das Schwert!«

Sie schaute hoch; einige Fuß entfernt sah sie die Klinge der Tagessternfanfare, deren Flammen im Wind aufloderten. Es steckte noch immer mit der Spitze im Schnee. Die fallenden Flocken hatten den Griff bestäubt und bedeckten ihn bis zum Knauf mit einer dünnen weißen Kruste. Sieben Jahre waren im Reich der Rowans vergangen, doch es schien, als wäre sie weniger als einen Tag fort gewesen.

Sie dachte an Constantin, an den Blick seiner Augen in jener Nacht, als er ihr Abbild in den Armen gehalten hatte, an dieselben Augen, wie sie im Nebel hinter dem Schleier des Hoen verschwunden waren. Der Schleier der Freude, dachte sie und erinnerte sich an die traumhaften Tage dort und an die schrecklichen Nächte. Vor allem wirst du die Freude kennen lernen, hatte der Patriarch gesagt. Vielleicht konnte Constantin nun, da sie fort war, etwas davon finden.

Ein Schwall winterlicher Luft riss sie aus ihren Träumen. Sie sah hinunter auf die kleinen Gesichter, die sie erwartungsvoll anstarrten.

»Wohin gehen wir jetzt, Rhapsody?«

Sie lächelte sie an. »Nach Hause. Wir gehen nach Hause.«

43

Haus der Erinnerung, Navarne

Achmed bemerkte, dass es hier sogar im tiefsten Winter Vögel gab.

Er hatte sein Pferd auf einer Lichtung außerhalb des Gebietes zurückgelassen, das bereits bei seinem letzten Besuch verseucht gewesen war. Es war nicht schwierig gewesen, die Grenzen der Fäulnis zu finden. Dieser alte Hain, dessen dunkle Bäume sich meilenweit über die sanften Hügel Navarnes erstreckten, war in der Mitte mit neuen weißen Birken, Pappeln und blassstämmigen Föhren bewachsen. Es handelte sich um junge Bäume, deren fahle Strünke der Gegend ein käsiges und blässliches Aussehen verliehen, als wäre sie krank. Einige Zeit war vergangen, seit der Rakshas hier vertrieben worden war und Achmed zusammen mit seinen Gefährten den auf Befehl des F’dor verübten Blutopfern von Kindern ein Ende gemacht hatte. Doch immer noch hing eine schwere Stille in der Luft, ein greifbares Fehlen von Leben.

Wenigstens gab es inzwischen Vögel hier, unverwüstliche kleine Wintervögel, die durch den Schnee hüpften oder auf den Ästen spärliche Rufe ausstießen und nach Nahrung suchten. Wenn die Vögel bereit waren, die getrockneten Beeren und gefrorenen Samen dieses Ortes zu fressen, mussten die Fäulnis und der Makel des Bösen, die in den Waldboden eingesickert waren, wirklich verschwunden sein. Vorher war keinerlei wildes Leben hier gewesen. Er hörte, wie in westlicher Richtung die Schneedecke brach. Die Zweige raschelten. Diese Störung wurde nicht von einem Vogel, sondern von einem Menschen verursacht.

Rhapsody würde im Hof des Hauses warten, dachte er, als die Geräusche näher kamen. Er spürte den Herzschlag der Sängerin weiter vorn; sie war dort, wo sie sein sollte. Achmed sah nach seiner Cwellan.

Er zwang sich, ganz langsam zu atmen, und stand so still und reglos da wie ein Schatten, der von der untergehenden Sonne geworfen wird. Er fluchte schweigend; in der alten Welt, wo er noch seine Blutgabe besessen hatte, wäre es ihm möglich gewesen, auch den Herzschlag dieses Fremden zu spüren und sofort zu wissen, wo er sich befand und an welcher Stelle er verwundbar war. Doch seit er in dieses neue Land gekommen war, war er blind und konnte sich zum Überleben nur auf sein Kampfgeschick verlassen.