»Warum?«, wollte er wissen. »Wie kannst du es wagen, mit einem geladenen Gast des Prinzen so zu reden? Die Einladung ist in Ordnung. Tritt beiseite, Soldat. Es ist kalt. Lass uns durch.«
Der Wächter zog drohend sein Schwert. Die anderen am Tor richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Kutsche. Rhapsody wandte sich rasch an Rial.
»Es ist in Ordnung, Rial«, sagte sie hastig. »Sie sind nur vorsichtig.« Sie schaute wieder die Wache an und nahm die Kapuze ab.
Der Soldat riss die Augen auf. Er blinzelte rasch, wandte den Blick ab und legte sich eine Hand über die Augen, um die Fassung wiederzuerlangen. Er gab Rial die zweite Einladung zurück und bedeutete dem Kutscher, in die Stadt einzufahren.
Rhapsody setzte ihre Kapuze wieder auf. »Gehst du direkt ins Gästehaus, Rial?«
Der Schutzherr lächelte. »Ja, weil ich keinen anderen Ort in dieser Stadt kenne. Möchtest du anderswohin gebracht werden, Rhapsody?«
Sie nickte und schaute abwesend aus dem Fenster auf die Massen von Händlern und Soldaten, die durch die Straßen strömten. »Ich brauche einen Schneider. Ich habe keine passende Garderobe bei mir; ich bin schon seit langer Zeit unterwegs.« Mehr als sieben Jahre, auch wenn auf dieser Seite des Schleiers währenddessen keine Zeit vergangen ist, dachte sie im Stillen. Sie drehte sich Rial zu, der sie eindringlich ansah, und lächelte.
»Ich freue mich darauf, Achmeds Geld auszugeben.«
Der heilige Mann seufzte still. Schon wieder ein Kutschenstau. Er schüttelte den Kopf und bat die harsche, schmeichelnde Stimme in seinem Inneren, still zu sein.
Leider erwartete ihn bei der Hochzeit kein wirkliches Vergnügen. Tristans Streitkräfte, die ihm als Herrscher und Oberbefehlshaber treu ergeben waren, waren bereits vereidigt und daher unmöglich dazu zu bewegen, ihm oder seinen Interessen Schaden zuzufügen. Die Truppen waren erstaunlich angeschwollen; die Heere von Roland, die noch in ihren Heimatprovinzen untergebracht waren, aber nach und nach in Bethania zusammengezogen wurden, würde bald mehr als hunderttausend Mann zählen. Bei diesem Gedanken brannten seine Augen vor Erregung.
Dennoch war es hart, eine solch ausgezeichnete Gelegenheit, großen Schaden anzurichten, nutzlos verstreichen zu lassen. Eine königliche Hochzeit, die erste seit vielen Jahren, war ein erstklassiges Jagdgebiet und eine beinahe unwiderstehliche Möglichkeit, einen Gewaltausbruch hervorzurufen. Er hatte bereits für eine kleine Überraschung dieser Art gesorgt, auch wenn er bezweifelte, dass sie die Feierlichkeiten ernsthaft stören würde. Er seufzte wieder. Welch ein Verlust.
Er zog den Vorhang des Kutschenfensters zurück und lehnte sich in den Wind.
Nun, mein gutes Volk, darfst du erscheinen, flüsterte er.
Außerhalb der Innenstadt, am westlichen Ufer des Phon, der wichtigsten Wasserstraße der Provinz, weit hinter dem Blickfeld der Soldaten und versteckt in den dunklen Ödnissen aus behelfsmäßigen Hütten und wackeligen Ställen, die für die umgesiedelten Einwohner von Bethanias Vorstädten errichtet worden waren, brannten plötzlich die Augenränder der Hufschmiede, die noch vor einigen Tagen die Pferde beschlagen hatten, welche den Wagen des heiligen Mannes zogen. Und tief in ihrem Inneren entzündete sich ein dunkleres Feuer. Schweigend beendeten sie ihre Arbeit, verließen ihre Hütten und sammelten im bitterkalten Wind ihre Werkzeuge ein.
45
Vier Straßenecken östlich vom zweiten Wall des Stadtviertels im Norden, dann elf Straßen nach Süden. Rhapsody zählte schweigend mit, als sie den Fußgängern und Karren folgte. Sie hielt den Kopf gesenkt und den großen Kleidersack fest unter dem Arm, wobei sie sorgsam darauf achtete, dass sie ihn nicht durch den gefrorenen Dreck der gepflasterten Straße zog. Ihr vom schnellen Schritt und der Angst in der Luft um sie herum warmer Atem bildete dünne Wölkchen aus weißem Nebel, die bei jedem Ausatmen und jedem eiligen Schritt wieder im Wind verwehten.
Im Mittsommer, während ihrer Liebestage, hatte Ashe ihr Anweisungen zum Auffinden sicherer Orte in verschiedenen Städten im ganzen Land gegeben; dabei handelte es sich um Dachstuben, Keller und Lagerräume, die er bei Bedarf selbst aufsuchte. Jede Anweisung hatte er mit der Warnung begleitet, dass diese Orte möglicherweise bereits nicht mehr existierten. Er hatte die meiste Zeit mit Reisen über Land verbracht und sich nur sehr selten in ein Dorf oder eine Stadt gewagt; daher verging immer viel Zeit zwischen den einzelnen Besuchen dieser Verstecke. Er hatte ihr gesagt, dass sie schon beim nächsten Besuch vielleicht nicht mehr sicher wären. Es gab nur ein Versteck die Torfhütte hinter einem Wasserfall im nördlichen Gwynwald , das er für alle Zeiten als ungefährdet ansah. Dennoch hatte er sie dazu gedrängt, von diesen Zufluchten Gebrauch zu machen. Eine war hier irgendwo in Bethania, wo sie sich vor und vielleicht auch nach der Hochzeit hatten treffen wollen, vorausgesetzt sie fand diesen Ort.
An der achten Straße, die nach Süden führte, bemerkte sie, dass der Verkehr abnahm. Sie blieb stehen und sah sich um. In unmittelbarer Nähe von ihr erhoben sich drei gewaltige Türme; jeder wurde von einer großen Zisterne gekrönt, die das Regenwasser für die Stadt sammelte. Damit wurden die öffentlichen Gärten bewässert, das alte cymrische Abwassersystem in Gang gehalten und Trinkwasser für den Palast und die Basilika bereitgestellt. Die Straßen um die Türme wurden von kleineren Steinzisternen und Regenwassertanks sowie mit Baracken für die Arbeiter und Soldaten gesäumt, die das System erhielten und verteidigten. Jeder Turm hatte einen Wachtposten, denn die Zisternen wurden Tag und Nacht bewacht, damit der königliche Wasservorrat nicht vergiftet wurde. Rhapsody folgte der scheinbar endlosen, gebogenen Steinmauer drei weitere Straßen, bis sie zu der Stelle kam, an der sich die Tür befinden sollte, falls sie sich richtig an Ashes Anweisungen erinnerte. Sie schaute sich verstohlen um. Da niemand in der Nähe war, huschte sie in eine Seitengasse, die vor einer Mauer endete, welche wie alle Mauern des Bewässerungssystems mit dichtem Dornengestrüpp überwuchert war.
Diese immergrüne Vegetation, die bei den Filiden von Gwynwald als Unterdorn bekannt war, stellte im ganzen westlichen Teil des Landes eine beliebte Verteidigungseinrichtung dar. Es handelte sich dabei um eine natürliche Barriere mit gezahnten Stacheln, die in Doppelreihen wuchsen und sehr schmerzhafte Wunden verursachten, welche auch dann noch bluteten, wenn sie sich eigentlich schon lange geschlossen haben sollten. Rhapsody hatte während ihres Aufenthalts in Gwynwald den Unterdorn sowohl mit Llauron als auch mit Lark, der scheuen Kräuterexpertin des Fürbitters, studiert und kannte daher die Gefährlichkeit dieser Pflanze. Sie wusste, wie man sich vor ihr schützen konnte; die Techniken dazu hatte sie zum Teil in Gwynwald gelernt, zum Teil verdankte Rhapsody sie ihren Fähigkeiten als Benennerin. Sie sah sich noch einmal um, als der Lärm einer Pferdekutsche durch die Gasse hallte, dann aber wieder verebbte. Gut, dachte sie. Die Straßen waren nicht fern; es würde einfach sein, eine Kutsche für die Fahrt zur Hochzeit zu mieten. So bald der Lärm verklungen war, wandte sie sich wieder der Dornenbewehrten Mauer zu und glitt mit der Hand in Gegenrichtung der Dornen unter die erste struppige Schicht.
Verlyss, sang sie sanft und sprach damit den wahren Namen der Pflanze aus. Sie spürte die musikalische Schwingung der rauen Rinde, der Stacheln und Dornen in der Luft, während sich die Pflanze in den Ruf einschwang.
Evenee, sagte sie. Samtmoos.
Die wilden Dornen, die sich gegen die Haut auf ihrem Handrücken drückten, wurden weich, glitschig und harmlos. Nun waren sie so sanft wie die grünen Flechten, die im Frühling die umgestürzten Bäume bedeckten. Sanft zog sie den Vorhang aus Vegetation zur Seite. Dahinter befand sich eine Steintür ohne Klinke, so wie Ashe es gesagt hatte.
Sie ertastete die Ränder der Tür, bis sie eine Einkerbung fand, die als Griff diente, und daran zog. Die Tür öffnete sich geräuschlos. Rasch trat Rhapsody ein und schloss die Tür hinter sich.