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Rhapsody hatte darüber ihre eigenen Vorstellungen, aber sie schüttelte nur den Kopf.

»Es war der Verlust des Baumes, meine Liebe, der großen Eiche der Tiefen Wurzeln, der Sagia. Der Tod der Sagia hat viel von der Magie der Welt mit sich genommen. Jeder der Großen Bäume der Legende zufolge waren es fünf wuchs an einem der fünf Geburtsorte der Zeit, wo je eines der fünf Elemente seinen Ursprung nahm. Die Sagia wuchs an der Stelle, wo der Äther geboren wurde und das Sternenlicht zuerst die Erde berührte. Der Äther war das erste aller Elemente, und seine Magie war die stärkste. Die Sagia versank in den Fluten, als Serendair unterging. Der Verlust, den die Welt erlitt, als die Insel vom Feuer des Schlafenden Kindes verzehrt wurde, ist unermesslich.« Plötzlich keuchte Llauron und hustete trocken und stoßweise. Rhapsody streckte ihm die Hand entgegen, doch er stieß sie fort und redete weiter.

»Die Große Weiße Eiche wächst am letzten der Geburtsorte der Zeit, wo das Element der Erde erschaffen wurde. Sie beschützt die Erde und erhält deren Magie am Leben. Stell dir vor, welch ein Ort die Erde wäre, wenn wir auch diesen Baum verlieren würden. Sie wäre so farblos, so bedeutungslos, dass das Leben kaum mehr lebenswert wäre. Vor allem du, eine Canwr, eine Benennerin, wirst dir nicht wünschen, dass etwas so Schreckliches geschieht, nicht wahr?«

Rhapsody verbarg ein Lächeln angesichts des dramatischen Endes von Llaurons Rede. »Nein, natürlich nicht.«

»Ausgezeichnet. Nun, meine Liebe, tu mir bitte diesen Gefallen. Versprich mir, dass du nach unserer Rückkehr in meine Festung in Gwynwald den Großen Weißen Baum mit demselben Zauber belegst, den du bei diesem jungen Schössling angewendet hast. Betrachte es als ein Geschenk an deinen demütigen Bewunderer.«

Rhapsody schluckte, sagte aber nichts. Das Feuer, welches das Haus der Erinnerung zerstört hatte, war in gewisser Weise ihr eigenes Werk gewesen; es war das Mittel gewesen, mit dem sie und die Bolg die Dämonenpflanze vernichtet hatten, die zwischen den Wurzeln des Schösslings gewachsen war. Sie hätte auch den Baum vernichten können; Rhapsody wusste nicht genau, was ihn vor dem Untergang bewahrt hatte. Llauron schien geradezu verzweifelt zu sein und großen Wert darauf zu legen, dass sie der heiligen Eiche unter seiner Obhut denselben Schutz gewährte. Warum sollte sie es ihm nicht versprechen?

»In Ordnung, ich werde es versuchen«, sagte sie, lächelte und zupfte den Mantel des Fürbitters zurecht, der ihm von der Schulter gerutscht war. »Dafür musst du mir versprechen, vorsichtiger mit deiner Gesundheit umzugehen, Llauron. Wenn du in diesem beißenden Frost den Hals entblößt, wirst du dir eine Erkältung holen.«

»Dann sollten wir einen Handel eingehen«, meinte Llauron fröhlich. »Ich werde Hut und Handschuhe anziehen und den Hals bedeckt halten, wenn du bei dem Großen Weißen Baum dasselbe Schutzritual anwendest wie bei dem Schössling, damit er vor der Vernichtung durch Feuer bewahrt wird. Dann sind die Waagschalen im Gleichgewicht. Einverstanden?« Er streckte die Hand aus.

Rhapsody sah ihn seltsam an. Den Ausdruck, die Waage schalen seien im Gleichgewicht, hatte sie zuerst in Sorbold gehört; vielleicht war er weiter verbreitet, als sie geglaubt hatte. Im Hinterkopf hörte sie wieder den schrecklichen, tiefen und donnernden Gesang: Tovvrik, Tovvrik, Tovvrik. Sie erschauerte unwillkürlich und sah in Llaurons erwartungsvolles Gesicht. In der Art, wie seine Augen im Winterlicht glitzerten, lag etwas, das sie beunruhigte, doch seine Bitte erschien ihr durchaus berechtigt. Sie dachte noch einen Moment lang nach, dann ergriff sie seine Hand und schüttelte sie.

»Einverstanden. Ich habe allerdings nicht vor, mit dir in den Kreis zurückzukehren, Llauron«, sagte sie. »Ich muss mich bald auf den Weg nach Ylorc machen. Aber ich glaube, ich kann es auch von dort aus machen, nämlich durch die Wurzeln des Schösslings. Sie sind mit denen des Großen Weißen Baumes verschlungen; zumindest hat Grunthor das gesagt.«

»Wie wunderbar«, meinte Llauron. Er ging rasch zu seinem Pferd, öffnete die Satteltasche an der linken Flanke und holte aus den Tiefen ein Paar Handschuhe, einen Hut und einen Schal hervor, alles aus weicher, ungefärbter Wolle.

Rhapsody warf einen Blick auf die Ruine des Hauses der Erinnerung und versuchte die tiefe Kälte zu vertreiben, die sich wie eine Schneedecke auf sie gelegt hatte. Sie wartete, bis Llauron zurückkehrte. Nun war er wärmer angezogen und ging sogleich zum Stamm des Schösslings.

»Kennst du den wahren Namen des Großen Weißen Baumes?«, fragte sie.

Llauron bedachte sie mit einem ernsten Blick und schüttelte dann den Kopf.

»Ich fürchte, nein«, sagte er widerstrebend. »Wird dich das davon abhalten, deine Magie bei dem Baum einzusetzen?«

Rhapsody seufzte. »Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht. Ich kenne ein paar der Namen, die die Filiden und die Lirin ihm gegeben haben, aber es wäre besser, den wahren Namen zu kennen.«

»Leider muss es uns auf andere Weise gelingen«, sagte Llauron. »Versuch es, meine Liebe. Ich werde so still wie möglich sein.«

Sie schaute hoch in das glatte, weiße Geäst, das im Winterwind schaukelte. Die hellen Blüten raschelten unter dem klaren Himmel. Sie schloss die Augen und lauschte dem Gesang des Windes, der im Einklang mit dem Lied des Baumes stand. Es war dasselbe Lied, das sie im Innern der Erde gehört hatte, als sie und die beiden Bolg entlang der Sagia-Wurzel, der Mutter des Baumes, gereist waren ein reiches Lied voller Weisheit und Macht, eine langsam sich vorwärts bewegende Melodie mit unendlich oft wechselnden Tönen, ohne den Zwang, schneller werden zu müssen, und doch jünger und heller als unter der Erde und zusammenschmelzend mit der Musik des Himmels, die den Baum einhüllte.

Sanft legte Rhapsody die Hand auf den Stamm des Schösslings, schwang sich auf ihn ein und sang. Sie rief jedes einzelne uranfängliche Element außer dem, vor welchem sie den Baum schützen wollte, denn sie wusste, dass diese Elemente die ganze magische Kraft enthielten.

Grüne Erde unter den Wurzeln bewache dich Weiter Himmel über den Zweigen schütze dich Kalter Wind umhülle dich, Regen überschütte dich Feuer aber soll dich nie verletzen.

Nach einigen Augenblicken spürte Rhapsody, wie das Lied durch den Stamm des jungen Baumes und bis hoch zu seinen Ästen pulste, bis zu den Blüten, welche seine Zweige schmückten. Sie spürte, wie das Lied dem Pflanzensaft gleich durch den Baum und in den Boden bis zu den Wurzeln wanderte.

Langsam sang sie einige der Namen, mit denen die Filiden den Großen Weißen Baum benannten, und hoffte, ihr Lied auf diese Weise zu ihm zu schicken.

Zeichen des Anfangs, lebe Mutter des Waldes, gedeihe Tempel der Vögel, wachse Feuer soll dich nie verletzen.

Eine unendliche Harmonie strömte von dem Schössling aus, zu der sich einen Augenblick später ein tiefer, reicher Kontrapunkt gesellte, bei dem es sich nur um die Stimme des Großen Weißen Baumes handeln konnte, der singend Antwort gab. Es war ein silberner Klang, der ein Zittern durch ihr Blut jagte und Erinnerungen aus alter Zeit mitbrachte, an ein verlorenes Land, in dem sie zum ersten Mal die Stimme des Wurzelbruders des großen Baumes gehört hatte des Baumes, der sie und ihre beiden Gefährten vor allen Gefahren bewahrt und sie in die Sicherheit und das Leben dieses neuen Landes geführt hatte. Sie kam zum letzten Vers und benannte die Eigenschaften des Feuers, das den Baum berühren konnte, ohne ihm zu schaden.

Licht des Frühlings erleuchte dich Heiße Sommersonne wärme dich Blattwerk aus flammenden Farben bekröne dich Doch Feuer soll dich nie verletzen.

Die Harmonie brandete auf und wurde zu dem Heillied, das die Harfe seit einem Jahr spielte. Rhapsody lächelte zufrieden und wandte sich an Llauron, der sie mit großer Neugier beobachtete.

»Ich fürchte, mehr kann ich nicht tun. Ich weiß nicht, ob es ausreicht.«