Khaddyrs Miene wurde kalt. »Es ist mein Recht als Sieger, den Leichnam zu untersuchen und seinen Amtsstab an mich zu nehmen.«
»Rühr ihn nicht an.« Sie spuckte diese Worte so giftig aus, dass Khaddyr zusammenzuckte. Sie hob Llaurons Arm und ließ ihn wieder fallen. Er schlug schlaff in ihren Schoß. »Welche zusätzliche Untersuchung benötigst du noch?«
Khaddyr nickte und versuchte immer noch, wieder zu Atem zu kommen. »Keine. Gib mir den Stab.«
Rhapsody schaute unter Llaurons steif werdende Hand. Auf dem Boden darunter lag das weiße Zepter; das goldene Blatt hatte der Schnee begraben. Sie warf Khaddyr einen scharfen Blick zu und zog dann den Stab unter dem Arm des Fürbitters hervor. Sie warf ihn dem Sieger entgegen. Als er ihn auffing, brach auf seinem Gesicht ein strahlendes Lächeln aus. Hinter ihm ertönte ein Freudengeheul von den fünf filidischen Geistlichen. Khaddyr sah zu, wie Rhapsody aufstand, dann sagte er mit sanfter Stimme:
»Es tut mir wirklich Leid, dass du das mit ansehen musstest, Rhapsody. Ich hoffe, du wirst eines Tages verstehen, warum ich gezwungen war, das zu tun.«
»Das verstehe ich jetzt schon vollkommen«, erwiderte Rhapsody mit tödlich ruhiger Stimme.
»Du bist die Hure des Dämons.«
Khaddyrs Augen weiteten sich vor Entsetzen und verengten sich dann in Wut. Doch nach einem Augenblick lächelte er nur noch. Er deutete mit seinem neuen Stab auf ihren Bauch.
»Welche Ironie«, sagte er sanft und grinste dabei abscheulich. »Nun, die Zeit wird es zeigen. Wir werden sehen, wer die Hure des Dämons ist.« Er gab seinen Gefährten ein Zeichen. Sie versammelten sich um ihn und bereiteten sich auf die Abreise vor. »Vergiss nicht, Rhapsody, dass es von dir abhängt, die Welt über meinen Sieg aufzuklären. Versuche, deine Arbeit als Benennerin besser als die der Iliachenva’ar zu machen.« Er lächelte sie noch einmal an, drehte sich dann um und ging. Sein Gefolge eilte hinter ihm her und versuchte mit dem gewaltigen Schritt eines Mannes mitzuhalten, dessen Einsatz gerade belohnt worden war.
Rhapsody wartete, bis sie den schrecklichen Geruch von Khaddyrs Truppe nicht mehr roch, bevor sie sich wieder dem Leichnam zuwandte. Sie beugte sich zu ihm herab und berührte zärtlich die alten Hände, die im Griff des Todes und des Winterschnees allmählich abkühlten. Benommen wiegte sie seinen Kopf in den Armen und schaukelte ihn, als wäre er ein Kind, so wie sie es mit Jo getan hatte. Doch diesmal trauerte sie nicht nur um sich selbst, sondern auch um Ashe. Sie spürte den Riss in ihrem Herzen, als es wieder einmal in Scherben fiel.
»Llauron«, flüsterte sie gebrochen.
Der Wind fuhr ihr über das Gesicht; er fühlte sich trocken an, denn sie hatte keine Tränen vergossen. Sie hörte, wie Oelendras Stimme auf dem Wind zu ihr drang. Es klang so, wie der Ruf der Blutsverwandten für Anborn geklungen haben musste. Eine Stimme aus der Erinnerung.
Die Iliachenva’ar ist eine geweihte Kämpferin ... eine Begleiterin oder Beschützerin der Pilger, Kleriker und anderer heiliger Männer und Frauen. Du musst all die beschützen, die dich brauchen, um Gott was immer sie darunter verstehen verehren zu können.
Sie hatte versagt.
In der Mitte des Winters setzte die Dunkelheit früh ein. Rhapsody stand auf dem Gipfel eines kahlen Hügels und wartete auf das Heraufdämmern der Sterne. Zum ersten Mal konnte sie nicht die Stimme erheben und sie begrüßen. Es war, als hätte die Musik ihre Seele verlassen, auch wenn sie wusste, dass sie die Klänge wieder finden würde, und sei es nur, um Llaurons Totenlied zu singen. Sie hatte ihm ihr Wort gegeben.
Der Scheiterhaufen, den sie errichtet hatte, war feucht; sie hatte unter dem Schnee nur sehr wenig trockenes Holz gefunden. Es war egal. Selbst ein lebender Baum würde sofort unter dem Sternenfeuer auflodern.
Sie erinnerte sich an ihren Traum bei Oelendra, an den Nachtmahr, in dem sie das Sternenfeuer auf Llauron niedergeschickt und ihn bei lebendigem Leibe verbrannt hatte. Obwohl sie wusste, dass das unmöglich war, untersuchte sie seinen Leichnam noch mehrere Male, nur um sicher zu sein. Er war kalt und leblos, sein Gesicht weiß wie das Sternenlicht, in ewigem Schlaf, friedvoll auf seinem Bett aus Reisig und Brombeergestrüpp.
Bei seinem Anblick tat ihr das Herz weh. Er hatte sich ihrer Beziehung zu Ashe entgegengestellt, hatte sie ständig an ihre Unwürdigkeit erinnert, doch er war auch freundlich zu ihr gewesen und hatte ihr geholfen, als sie Hilfe benötigt hatte.
Weißt du, mein Sohn ist nicht der Einzige in der Familie, der dich liebt. In vieler Hinsicht bist du für mich wie eine Tochter.
In ihrer neuen Heimat war er ihrem Bild eines Vaters am nächsten gekommen, und sie würde ihn wie ihren eigenen Vater betrauern.
Sie versuchte, nicht an Ashe zu denken, während sie die herannahende Dunkelheit erwartete. Die Pferde schienen ihre Stimmung zu erkennen. Sie hielten sich ganz still und beobachteten sie, als sie geistesabwesend Llaurons Kleider faltete und in den Satteltaschen des Madrianers verstaute; sie sonderte nur ein Stück aus, an dem Khaddyrs Blut klebte. Als sie seinen Gürtel in die Tasche stopfte, spürte sie etwas Kaltes, das sie genauer untersuchte. Es war die winzige, mit Wasser gefüllte Kugel, die ein glühendes Licht enthielt: Crynellas Kerze, Merithyns erstes Geschenk an Elynsynos.
Sanft löste sie die Kugel vom Gürtel und steckte sie zusammen mit Llaurons befleckter Robe in ihren Beutel. Sie gehörte nun Ashe; es war eine Hinterlassenschaft an die dritte und am schrecklichsten verfluchte cymrische Königsgeneration. Sie hoffte, sie werde ihm Trost spenden. Sie spürte nichts, nicht einmal Traurigkeit bei dem Gedanken, dass der Mann, der ihr Liebhaber gewesen war, nun zum Rächer seines Vaters werden würde. Die erste Person, die er dem Gesetz nach zu vernichten hatte, war Llaurons erfolglose Beschützerin, die Iliachenva’ar. Sie hoffte, auch diese Tat werde ihm Trost spenden. Zumindest würde es bei ihr so sein.
Als schließlich ein Stern am Horizont erschien, zog Rhapsody die Tagessternfanfare und deutete mit ihr in den Himmel. Dann sprach sie wie in ihrem Traum den Namen des Sterns aus und rief sein Feuer herbei. Ein Lichtstrahl, heller als ein Blitz, schoss aus dem Himmel und rollte wie eine weiße und flammenfarbene Welle über den Scheiterhaufen auf der Hügelkuppe. Rhapsody stand in der Nähe und hoffte in ihrem Innersten, dass das Feuer auch sie verzehren würde, doch das Inferno schwappte über sie hinweg; die blendende Hitze erhellte ihr goldenes Haar wie ein Leuchtfeuer, das meilenweit zu sehen war.
Der Grabhügel ging in Flammen auf, verkohlte Llaurons Körper in Sekunden und hob seine Asche in den Wind, wo sie wie schwarze Blätter tanzte, bevor sie in der Dunkelheit über dem Feuer verschwand. Rhapsody öffnete den Mund, aber kein Laut kam heraus. Sie schluckte wütend und zwang das Lied ihre Kehle hoch; die Melodie verbrannte ihr den Hals. Das Lied des Übergangs kam krächzend heraus und war kaum mehr als ein Flüstern. Sie sang, bis das Feuer niedergebrannt war und sich alle Spuren von Holz und Stoff in weißer, heißer Asche aufgelöst hatten.
»Es tut mir so Leid, Llauron«, flüsterte sie. Nur der Winterwind antwortete ihr mit einem leisen Jammern, das ihr durch die Haare fuhr und in ihre trockenen Augen stach. Sie stand bis zum Morgen Wache und sah stumm zu, wie der Tagestern verblasste und es am östlichen Horizont dämmerte. Dann nahm sie eine Hand voll Asche aus dem erkalteten Scheiterhaufen und füllte sie in einen Sack, den sie dem Wallach um den Hals band. Sie saß auf und ritt der aufgehenden Sonne entgegen, um Stephen Navarne von Llaurons Schicksal zu berichten.
Ashe wartete im Rauch der Schlacht. Im Morgenlicht war das Ausmaß der Zerstörung deutlich sichtbar. Er wusste, dass Rhapsody bald herkommen würde. Der Baum war drei Tagesreisen von der Stelle entfernt, wo Llauron gefallen war, doch sie würde sich beeilen. Die treuen filidischen Priester eilten in dem Kreis herum, kümmerten sich um die Verletzten und räumten die menschlichen Überreste aus Ashes Ein-Mann-Rettungsaktion fort. Der Überfall war mit erstaunlicher Geschwindigkeit zum Ende gekommen. Als Ashe eingetroffen war, hatte nichts mehr die Verwüstungen aufhalten können, die seine Wut mit sich brachte. Das Wissen, dass viele der Angreifer keinen eigenen Willen besaßen und unter dem Bann des Dämons standen, besänftigte seinen Zorn keineswegs. Rhapsodys Tränen hatten ihn in eine Raserei getrieben, die kein Halten mehr kannte.