Nun konnte er seinen Vater spüren, wie er sich durch die Erde bewegte und im Wind lachte.
Ist es das wert?, dachte er, als er das Bild der Vernichtung und des Todes betrachtete. Bist du jetzt zufrieden, Llauron? Wie viele Herzen müssen noch brechen, wie viele Leben enden, bevor deine Gier nach Macht gestillt ist?
Der Wind umwirbelte ihn und spielte mit den Zipfeln seines Mantels. Ashe seufzte. Llaurons letzter Wunsch war gewesen, eins mit den Elementen zu sein. Es war unmöglich zu wissen, was ihm der Wind gerade zu sagen versuchte.
»Bist du sicher, dass ich nichts für dich tun kann, Rhapsody?«
Rhapsodys Blick begegnete dem von Herzog Stephen. Sie sah die Besorgnis in seinen Augen, war aber nicht in der Lage, sein Lächeln zu erwidern.
»Ja«, sagte sie nur. »Es geht mir gut, vielen Dank. Bitte kümmert Euch um die Pferde. Falls es Euch möglich ist, mit Anborn Kontakt aufzunehmen, wird er Euch sagen, wie man mit ihnen umgehen muss.« Eine Haarsträhne fiel ihr in die Augen. Sie schob sie beiseite und sah zu der geschwärzten Hülse des einzelnen Glockenturms. Der kalte Wind fuhr durch die Glocken, die Navarne während des sorboldischen Angriffs gerettet hatten.
Der Herzog ergriff sanft ihre Hand. Er fuhr mit dem Daumen über die kleine, vom Schwertgriff schwielige Innenfläche und war über die Kälte ihrer für gewöhnlich warmen Haut entsetzt. Ihr ansonsten so fester Griff war schlaff und matt.
»Wohin wirst du jetzt gehen?«, fragte er mit tiefer Besorgnis in den Augen.
»Zum Haus der Erinnerung«, antwortete sie nur. »Llauron hat mich um zwei Dinge gebeten: dass ich den Ausgang seines Kampfes mit Khaddyr verkünde, was hiermit geschehen ist, und dass ich mich um den Großen Weißen Baum kümmere. Für den Schössling habe ich ein Schutzlied gesungen, das den Baum ebenfalls geschützt haben sollte. Ich werde es wiederholen, um sicherzugehen. Ich würde zu dem Baum reisen, aber Gwynwald ist so weit entfernt, und ich bin nicht nach Westen, sondern nach Osten unterwegs. Es ist das Letzte, was ich für ihn tun kann, und ich werde es tun. Dann werde ich nach Hause, nach Ylorc, zurückkehren, wo ich hingehöre.«
Herzog Stephen nickte. »Kannst du ein paar Tage hier bleiben und die Kinder besuchen? Sie haben schon nach dir gefragt.«
Rhapsody schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass das klug wäre«, antwortete sie. »Bitte überbringt ihnen meine Liebe.«
Die Haut um die blaugrünen Augen zeigte Fältchen, als der Herzog von Navarne auch ihre andere Hand ergriff. »Du weißt, Rhapsody, dass du eigentlich zur Familie gehörst. Glaubst du, es wird eine Zeit geben, in der du mich einfach mit meinem Vornamen anreden wirst?«
Rhapsody dachte über diese Frage so lange wie möglich nach. »Nein, mein Herzog«, sagte sie. Sie verneigte sich tief vor ihm, verließ seine Festung und lief in die peitschenden Arme des Winterwindes.
52
Der See von Elysian war nicht völlig zugefroren. Ashe war den ganzen Weg von Kraldurge hierher geeilt und entschied, dass es das Beste war, das Boot zu nehmen, und sei es nur, um Rhapsodys inneres Band zu der Grotte nicht zu stören. Sie würde ihn spüren, wenn er seine Wassermacht einsetzte, um hinüber zu der Insel zu gelangen, und das könnte sie verärgern. Vermutlich befand sie sich in einem Schockzustand, zweifellos in Trauer, doch wie zerbrechlich sie im Augenblick war, würde er erst wissen, wenn er sie sah. Er wollte es nicht riskieren, dass sie noch mehr litt.
Das Haus war dunkel; nicht ein einziges Licht brannte hinter dem Fenster. Es schien, als wäre Elysian tot. Die Gärten waren braun vom Frost und das Licht im Turm erloschen. Ashe schluckte und ruderte schneller. Sogar das Lied, das die Kaverne erfüllt hatte, war verstummt, und die Wärme von Rhapsodys innerem Feuer fehlte völlig. Panik stieg in Ashe auf. Sobald das Boot das Ufer berührte, sprang er heraus und rannte auf das Haus zu. Er öffnete die Vordertür und eilte in die Diele, wo seine Sinne sie erfühlt hatten. Zunächst sah er sie nicht; es brannten keine Lampen, und der Kamin war kalt. Nur ein kaum merkliches Glimmern wehte durch den Raum. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte er sie. Sie saß auf dem Boden vor dem Kamin und starrte verloren auf die geschwärzten Ziegel.
Er fuhr mit seinen Sinnen über sie. Dabei schnürte sich seine Kehle zusammen. Sie hatte an Gewicht verloren, was sie sich nicht leisten konnte; ihr früher makelloses Gesicht war eingesunken, und unter den Augen lagen dunkle Ringe. Ihre Augen verwirrten ihn am meisten. Sie waren zwar offen, schienen aber auf nichts gerichtet zu sein, und ihr Blick war trübe. Sie saß im Schneidersitz, hatte die Arme um die Brust geschlungen und die Hände unter die Unterarme geschoben. Er verfluchte sich dafür, dass er nicht gewusst hatte, wohin sie gehen würde. Er hatte sie zu lange allein gelassen. Als er auf sie zulief, sah sie kurz auf. Bevor er sie erreicht hatte, neigte sie den Hals ein wenig und zog den Kragen ihres Hemdes herunter. Gleichzeitig schob sie die Kette zur Seite. Ashe verstand diese Geste, und sie brach ihm das Herz. Sie machte sich freiwillig verwundbar und erwartete den Todesstreich.
Bei den letzten Schritten ging er auf die Knie und warf die Arme um sie, als er sie endlich erreicht hatte. Er vergrub das Gesicht in ihrem Nacken, küsste sie immer wieder sanft und versuchte ihr wortlosen Trost zu spenden. Sie öffnete die Hand; Crynellas Kerze fiel heraus. Sie beugte sich noch tiefer und versteifte sich. Er erkannte an ihren Handlungen, dass sie seine Rache erwartete und er sie für ihr Versagen bei Llauron töten sollte. Bei diesem Gedanken drehte sich ihm der Magen um.
Sie flüsterte etwas, das er niemals gehört hätte, wenn sein Ohr nicht dicht an ihren Lippen gewesen wäre.
»Bitte beende es schnell.«
Ashe packte sie bei den Armen und drehte sie um, damit er ihr ins Gesicht sehen konnte. Mit den Augen sog er ihre verheerende Furcht auf. Er schüttelte sie leicht, und als ihr Blick sich kurz klärte, sah er sie mit aller Tiefe an, die er aufbringen konnte.
»Hör mir zu, Aria. Es war nicht deine Schuld. Du hast nichts Falsches getan. Bitte, Rhapsody, lass nicht zu, dass deswegen etwas von dir stirbt. Bitte.«
Sie sah auf den Boden und sagte nichts. Ashe nahm sie in die Arme, wiegte sie und versuchte, sie wieder zu sich zu bringen. Schließlich hob sie sanft an zu sprechen.
»Es tut mir Leid«, flüsterte sie. »Ashe, es tut mir so Leid. Ich konnte es nicht aufhalten; ich konnte ihn nicht retten. Er hat es nicht zugelassen.« Der Schmerz in ihrer Stimme lockte ihm die Galle in die Kehle. Sie fuhr hastig fort: »Es war meine Aufgabe, ihn zu beschützen; das ist es, was die Iliachenva’ar tun muss. Ich habe mich entehrt, ich habe das Schwert und das Amt entehrt. Es tut mir Leid.«
»Nein. Nein, das stimmt nicht, Rhapsody.«
»Ich hätte Khaddyr erledigen sollen, bevor sie mit dem Kampf angefangen haben. Ich hätte diesen dämonischen Bastard ohne Schwierigkeiten töten können. Entweder steht er im Bann des F’dor, oder er ist der Dämon selbst. Es war meine Aufgabe, und ich habe versagt. Ich habe Schande über mich, Oelendra, die Götter und die Tagessternfanfare gebracht. Ich war unwürdig, und sie haben nicht auf mich gehört.« Sie erzitterte in seinen Armen. »Ich konnte deinen Vater nicht retten, Ashe. Es tut mir so Leid.«
Ashe hielt es nicht mehr aus. »Das solltest du auch nicht, Rhapsody.« Sie schien ihn nicht zu hören. Er nahm ihr Gesicht in die Hände und sah ihr in die Augen. Sie waren grüngrau und glanzlos. »Hast du mich verstanden? Ich habe gesagt, du solltest ihn nicht retten. Es war ein Streich. Llauron ist nicht tot. Man hat dich benutzt. Es tut mir Leid; ich wünschte, ich hätte es dir auf angenehmere Weise sagen können, aber du machst mir Angst. Du darfst nicht mehr glauben, dass du für all das verantwortlich bist. Und dass ich dir das Leben nehmen will...«