Grunthor zog seinen gehörnten Helm aus und kratzte sich verwundert am Kopf.
»Was soll das alles?«, murmelte er.
Im Vordergrund, wie auf einem Ehrenplatz, standen vier Gegenstände, die vermutlich in neuer oder gar vor kurzer Zeit gefunden worden waren: ein Keramikteller, eine Münze wie tausend andere in diesem Hort, der zerkratzte Deckel eines Kästchens aus blau schimmerndem Holz und schließlich ein Nachttopf mit einem abgebrochenen Henkel.
»Verdammich«, flüsterte der Sergeant.
Er sah sich genau um und entdeckte schließlich hinter einer Reihe verrotteter Fässer mit dem königlichen Siegel auf den Zapfen einen schweren hölzernen Gegenstand, der wie ein Stundenglas aussah. Er hob ihn vorsichtig an und drehte ihn um.
Auf dem Boden befand sich das Wappen auf einem matten Silberbeschlag mit getrockneten Wachsresten in der Gravur.
Ein Siegel. Ein königliches Siegel.
Bringt mir das Große Siegel.
Rasch steckte Grunthor alle kürzlich entdeckten Dinge ein. Er kroch aus der Zisterne und verhüllte dabei seine Laterne.
Tiefe und unergründliche Stille erfüllte die Ruine des Loritoriums und verlieh ihm das Aussehen einer Krypta, wenn da nicht die Wärme des Flammenquells gewesen wäre, der in der Mitte der zerstörten Wege brannte. Es war eine kleine, sonnenhelle Flamme, die schwache, flackernde Schatten in das unterirdische Gewölbe warf. Die Stille war feierlich, nicht bedrückend. Selbst in der völligen Abwesenheit aller Geräusche lag etwas wie eine langsame und süße Musik.
Die roten Winterblumen in Rhapsodys Hand leuchteten in dem schwankenden Licht. Sie hatte die letzten Blüten in den Gärten von Elysian gepflückt, nachdem sie das Haus vor ihrer langen Reise geschlossen hatte. Nun stand sie über dem Erdenkind und wunderte sich über dessen Schönheit und Wandelbarkeit. Die Haut war grau und wirkte poliert wie bei einer Statue; das Fleisch war braun und grün und rötlich und purpurn gestreift wie Marmor. Die Schwere der Gesichtszüge wurde ausgeglichen durch eine Zartheit, die gleichzeitig eine seltsame Schärfe hatte. Grasgrüne Wimpern ruhten unter Lidern, die durchscheinend wie Eierschalen waren. Sanft bedeckte Rhapsody das Schlafende Kind mit einer Decke aus Eiderdaunen, die sie aus Tyrian mitgebracht hatte, und wickelte die Ränder um den Mantel, den Grunthor ihm gegeben hatte, um es warm zu halten. Rhapsody legte die Winterblumen neben das Kind auf den Altar des Lebendigen Gesteins, auf dem es schlief. Sie beugte sich nieder und küsste vorsichtig die Stirn.
»Von deiner Mutter, der Erde«, sagte sie leise. »Sogar in den kältesten, dunkelsten Tagen gibt sie uns Farben, an denen wir uns wärmen können.«
Die Mundwinkel des Kindes verzogen sich leicht, entspannten sich wieder und erschlafften im Schlaf.
Rhapsody streichelte das lange weiße Haar, das brüchig und trocken wie vom Frost gebleichtes Korn war, und erinnerte sich daran, dass es bei ihrer ersten Begegnung golden gewesen war und Wurzeln so grün wie das Sommergras gehabt hatte. Wie die Erde unter ihrem Tuch aus Schnee schlummerte, so schlief auch das Kind tief und friedlich. Die Worte der dhrakischen Großmutter kamen ihr wieder in den Sinn, als sie den kaum merklichen Atem beobachtete.
Du musst dich um das Kind kümmern.
Wie soll ich mich um es kümmern?
Du musst jetzt sein amelystik sein.
»Ich weiß, dass du sie vermisst«, sagte Rhapsody vernehmlich und glättete geistesabwesend das Laken. »Aber ihr Geist ist hier bei dir. Du kannst ihn um mich herum in der Kammer spüren.«
Das Kind reagierte nicht darauf, sondern atmete weiterhin auf stete, hypnotische Weise. Rhapsody spürte, wie Wärme und Schläfrigkeit sie überkamen. Langsam und ohne nachzudenken streckte sie sich neben dem Kind auf dem Altar des Lebendigen Gesteins aus und legte dem kleinen Wesen die Hand auf das Herz, wie es die Großmutter sie gelehrt hatte.
Es war ein seltsames Gefühl unter ihrer Hand. Da war kein wirklicher Herzschlag, sondern eher eine Schwingung, vielleicht aus den Schmieden und Minen, in Zielgerichteter Gleichmäßigkeit, vielleicht auch ausgehend von dem Herz der Erde unter dem Flammenquell. Beinahe klang es wie Atmen. Man hätte glauben können, dass das Kind unter der Berührung kalt oder hart wäre, doch die Sinne vermittelten ein anderes Bild: Das Kind gedieh an diesem warmen Ort, auf dieser Platte aus Lebendigem Gestein. Es strahlte Wärme, den Atem der Geschichte und den Geruch der Erde sowie des tiefen Berggesteins aus. Es war ein reicher, grüner Geruch, der dazu führte, dass Rhapsody, die nun neben ihm schlief, von ihrer Kindheit träumte.
Zum ersten Mal, seit sie sich erinnern konnte, kehrten alte Träume zu ihr zurück Träume über das Verlassen der bäuerlichen Gemeinschaft ihrer Kindheit, über das Bestaunen der Wunder jener Welt und die Suche nach dem eigenen Weg. Die Jugend, die Unschuld, die sie damals gehabt hatte, erneuerte sich in diesen Träumen, glättete die Sorgenfalten auf ihrer Stirn und ließ ihre Haut in der strahlenden Erregung eines jungen Mädchens an der Schwelle des Lebens erglänzen. Mit jedem Augenblick, den sie im Schlaf verbrachte, wurde sie erneuert. Als Achmed sie fand, im tiefen Schlummer neben dem Kind, waren alle Sorgen des Lebens aus ihrem Gesicht getilgt.
Er stand lange Zeit über den beiden, verloren in melancholischen und zärtlichen Gedanken. Er hatte gewusst, dass jemand ins Loritorium eingedrungen war, und vermutet, um wen es sich dabei handelte. Er hatte sie während ihres Schlafes in dem dunklen, verschatteten Gewölbe beobachtet und darüber nachgedacht, dass dieser Ort dazu errichtet worden war, Reichtümer zu beherbergen, die er nie beherbergt hatte, doch nun gab es hier die beiden größten Schätze der Welt: zwei schlafende Kinder. Als er sie anschaute, verspürte er einen Zusammenprall von Erinnerung und Vision. Die Erinnerung, die in seinem Kopf pochte, war die an die Begegnung mit dem Rakshas, nach der sie dem Tode nahe am Boden gelegen und geschlafen hatte, blutlos und sich hartnäckig im Schatten des Freundes, den sie getötet hatte, an das zerbrechliche Leben klammernd. Die Vision betraf die unausweichliche Zukunft, in der sie, obwohl sie eine langlebige Cymrerin war, irgendwo liegen würde, nicht länger schlafend, sondern gestorben, wie alles Leben sterben muss steinern, ein Schatten ihrer selbst. Eine Welle des Grauens überschwemmte ihn wie das Feuer, das die Überreste der Kolonie verschlungen hatte. Er hatte Angst, dass dies die einzige Möglichkeit für ihn war, sie ganz für sich zu haben: im Tod. Und er wusste, dass er alles tun würde, um sie zu retten, auch wenn er dafür die ganze Welt opfern müsste. Wie sonst niemand auf der Welt verstand er die Zwänge, denen der F’dor ausgesetzt war, und wusste deshalb, warum es gute Gründe gab, sich zu fürchten.
Als Rhapsody erwachte, spürte sie, dass er sie beobachtete, noch bevor sie ihn in den Schatten des Loritoriums bemerkte. Sie kannte dieses Gefühl gut; sie war schon tausendmal aus dem Schlaf erwacht und hatte festgestellt, dass er sie vorsichtig wie eine Jagdbeute ansah. Sie richtete sich auf, wobei sie sorgsam darauf bedacht war, das Kind nicht zu stören, erwiderte seinen Blick und fühlte sich wie so oft, als schaute sie durch den Spiegel der Welt und erblickte ihn darin, wobei sie niemals die Dunkelheit begriff, in der er lebte. In all ihrer Zeit zusammen hatte sie noch kein beständig offenes Fenster zu seiner Seele entdeckt; sein Atmen und Essen waren für sie immer noch ein Rätsel.
In der Dunkelheit jedoch gab es manchmal ein Schlüsselloch, einen winzig kleinen Riss, den er zu seinen inneren Gedanken offen ließ, die ihn so rätselhaft machten. Er fühlte sich in der Dunkelheit sicherer; bei Tageslicht war es fast unmöglich, etwas aus seinen Worten, Taten oder Gebärden zu erfahren. Immer wenn sie auf diese Weise erwachte und er sie anstarrte, wünschte sie, er möge zuerst reden und etwas Erhellendes sagen, bevor die Sonne aufging und ihn wieder völlig unerforschlich machte. Diesmal tat er es. »Ich wusste, dass jemand hergekommen ist«, sagte er ein wenig unbeholfen.